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Botho von Hülsen und seine Lente.
übte und mit einigem natürlichen Kunstgcfühl begabte Laie jederzeit. Es erfordert keine geschulte Fachkennerschaft, um zuweilen den geistlosen Tvn der Heldenmuttcr oder die „schläfrige Blondheit" der Naiven unerquicklich zu finde». Dazu gehört nur ein aufmerksames Ohr. Worin sich aber der Kenner vom Laien unterscheidet, das ist die wohlerwogene Würdigung auch der vielleicht weniger ins Ange springenden Vorzüge des Künstlers, die vollkommene Unabhängigkeit des Urteils von rein individuellen Sympathien oder Antipathien, und die feinfühlige Schätzung des Talents, wo es sich in selbständiger und eigenartiger Weise, durch die es den Unknudigen verblüfft oder befremdet, zu erkennen giebt. In beiderlei Hinsicht erregt die kritische Methode des Verfassers erhebliche Bedenken gegen seine Kompetenz, Wenn er z. B, an der ersten Tragödin der Bühne alles Mögliche bemäkelt, sie bald reizlos, bald unhcllenisch modern (als Jphi- genie, ein sehr oft angewendeter Gemeinplatz, bei dem sich die meisten, die ihn brauchen, absolut nicht klar sind, was er bedeutet), bald endlich schwerblütig und ohne Leidenschaft findet, ihr Wärme des Gefühlstons bestreitet nnd dabei behauptet, sie könne Leidenschaft und Empfindung mehr fühlen als von sich geben, so muß der Fernstehende sich erstaunt fragen: Wie ist es möglich, daß eine so jammervolle Künstlerin, die nichts recht macht, für die Hofbühne engagirt werden konnte? Und doch ist sie, die früher die Zierde des Karlsruher Hof- theatcrs und der Liebling des dortigen kunstsinnigen Publikums war, von all den Größen, die im Laufe von drei Jahren geprüft und zu leicht befunden wurden, unter dem einstimmigen Beifall der Kritik und des Publikums erkoren worden, um Fräuleiu Haverlcmd, die schmerzlich Vermißte, endlich zu ersetzen. Was folgt nach Herrn Schlenther hieraus? Daß nicht nur die Regisseure, der Generalintendant, die hohen Herrschaften, denen ein Konsultationsvotum zusteht, und die sonstigen Berater der Bühuenleitung, sondern auch das Publikum und die Rezensenten nrteilslose Tröpfe sind und alle sich ein beklagenswertes Armutszeugnis ausstellen, indem sie immer wieder jener Dame Lorbeeren spenden, wie es z. B. nur noch vor kurzem erst der Fall war, als sie eine neue hochtragische Rolle als Klytämnestra in Siegerts gleichnamiger Tragödie schuf und dabei gerade wegen der großartig edeln Leidenschaftlichkeit ihrer Spielweise die ungeteilte Anerkennung errang.
Zu derselben niederdrückenden Entdeckung verhilft uns Herr Schlenther auch durch seine unbarmherzige Strenge, mit der er, ein charakterfester Mann, dem leuchtenden Zauber eines schönen Augeupaares trotzend, die Inhaberin desselben, die erste tragische Liebhaberin, unter das kritische Messer nimmt. Was ist ihm Hekuba? Eine hohle, in sentimentaler Eintönigkeit und in unwahrem Pathos schwimmende Reklame für ihre Schneiderin. Recha, Lnisc Millerin, die kluge Elfe in Wilbrandts „Malern," Eboli — alle diese Rollen sind ihm ebensovicle Beispiele ihrer Untauglichkeit! Wieder dieselbe rücksichts- und pietätlose Absprecherei eines frühreifen Selbstgefühls, wieder „ein Hieb durch die ganze Visage," wie es