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Lessingstudien.
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Lessingstudien.

daß es unmöglich ist, zwischen Lcssing und Aristoteles einen Unterschied zu machen, unmöglich dein einen die Ansicht von der nothwendigen Verbindung der Schuld mit der Katastrophe zuzuschreiben und sie dem andern abzusprechen. Lessing wenigstens war sich eines solchen Unterschiedes nicht bewußt. Würde er sich sonst gerade im Zusammenhange unsrer Stelle auf das des Ari­

stoteles berufen haben?

Noch eine Stelle mag angeführt werde», welche unsre Ansicht bestätigt. Sie findet sich iu einem Briefe an Gerstcnberg, den Dichter desUgolino" (25. Fe­bruar 1768), und ist schon deshalb interessant, weil sie fast gleichzeitig mit der angeführten Stelle in der Dramaturgie niedergeschrieben ist*) und daher als ihre authentische Erklärung angesehen werden kann. In diesem Briefe schreibt nun Lessing dem Verfasser desUgolino" über die Wirkung, die sein Stück auf ihn ausgeübt habe:Mein Mitleid ist mir zur Last geworden, oder viel­mehr, mein Mitleid hörte auf Mitleid zu sein, und ward zu einer gänzlich schmerzhaften Empfindung."Woher dieses? Ihre Personen leiden alle. Die mchresten derselben leiden völlig unschuldig Kinder mußten die Schuld ihres Vaters nur mittragen. Die einzige Person, die vielleicht nicht ganz uuschuldig leidet, leidet doch gar nicht in Proportion ihrer Schuld, ihres «^^r?^«, welches völlig außer dem Stücke ist und von dem wir fast gar nichts erfahren." Diese Stelle ist, wenn auch nicht so tief gedacht wie die aus der Dramaturgie ange­führte, so doch womöglich noch unzweidentiger in ihren Ausdrücken. Gerade der Tadel, daß Ugoliuo nichtin Proportion seiner Schuld" leide, schneidet mit wünschcnswerthester Klarheit alle ferner«? Versuche, Lessing die Erkenntniß der tragischen Schuld zu bestreiten, im voraus ab. Selbst der technische Aus­druckSchuld" ist hier gebraucht, so daß uns Epigonen nicht einmal mehr der Ruhm ungeschmälert bleibt, unsre Kunstsprache mit einem neuen Worte be­reichert zu haben.

Dennoch hieße es ungerecht, weil unhistorisch sein, wollte mau verkennen, daß zwischen Lessing und der neuern Aesthetik in dieser Frage noch ein Unter­schied vorhanden ist. I» Lessing lag die Erkenntniß von der sittlichen Ver­söhnung durch die Tragödie vorgebildet, die volle Ausführung hat ihr erst Schiller gegeben. Von ihm stammt das bekannte Wort von demgroßen gigan­tischen Schicksale, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zer-

*) Das 79. Stück ist datirt von» 2. Februar 1768. Wenn auf dieses Datum auch bei dem unregelmäßigen Erscheinen der Dramaturgie kein Gewicht zu legen ist, so belehrt uns doch ein Brief Lessinas an seinen Bruder Karl vom 9, Juni 1768, daß bis zu diesem Tage 82 Stücke erschienen waren. Das wahre Dniuiu des 79. Stückes muß daher so gut wie der Brief au Gersteubcrg in die erste Hälfte des JahreS 1768 fallen.