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lager des Gegners ernstlich zu kümmern. Auf der andern, der jüdischen Seite sucht man diese Frage durch humanistische Scheuchen von sich abzuwehren, was eben so wenig Ernst in der Behandlung der Sache bekundet. Und doch scheint die Sache ernst genug, um eine andere Behandlung verlangen zu dürseu. Was ist der Grund, weshalb in neuerer Zeit das Judenthum in Deutschland eine solche Bedeutung erlangt hat uud weshalb das deutsche Volk dieser Bedeutung sich immer feindlicher entgegenstellt? Welche Ursachen hierfür zeigen sich in unserm deutschen Judenthume selbst, welchen Charakter trägt dasselbe in sich? Das sind Fragen, die man nur beantworten kann aus der Kenntniß des polnischen Judenthums heraus. Ich will, auf eine längere, örtliche Beobachtung gestützt, versuchen, einige Umstünde aufzuklären, die sich mir als Quellen dessen darstellen, was unserm deutschen Judenthum seine eigenthümliche, so vielfach angefeindete Färbung verleiht.
In gewissem Sinne giebt es in Rußland keiue Klasse von Unterthanen, die einer so ausgedehnten Freiheit sich erfreute wie die Judeu. Seit Rußland durch die Erwerbung Polens und Litthauens mit diesem Stamm in engere Berührung trat, hat es demselben den Uebertritt auf russisches Gebiet gesetzlich geweigert und ihn zugleich wie einen Fremden behandelt auch dort, wo er von Alters her ansässig war. Aehnlich wie die Regierungen des Mittelalters meinte die russische Regierung bis heute den Juden gegenüber keine Pflichten der Sorge für das innere Wohl dieses Volkes zu haben. Sie beachtete die Juden, soweit dieselben zu den Staatslasten herbeigezogen werden konnten, und überließ sie im übrigen fast ganz sich selbst; sie verlangte von ihnen Steuern und Beobachtung der öffentlichen Ordnung, ohne sich darum zu kümmern, wie sie sich als Volk entwickelten. So wurde den Juden die Regelung ihrer innern Angelegenheiten, ja selbst ihre innere Rechtspflege fast gänzlich überlassen. Erziehung, Rechtsprechung, eommunale Verwaltung lagen bis in die Gegenwart in den Händen der Lehrer nnd Rabbiner, die ohne Zuthun der Regierung erwählt wurden; die Gemeinden verwalteten sich frei durch erwählte Beamte und nach eignem Gutdünken; die Steuern sogar wurden nicht immer durch Beamte des Staates, soudern durch jüdische Eiunehmer erhoben; noch heute bestehen Steuern ausschließlich für die Juden, wie die Fleischstener, deren Erhebung vom Staat einem Steuerpächter in jeder Gemeinde anvertraut ist. Erst die Einführung der Friedensgerichte beginnt seit einigen Jahren die Justiz des Rabbiners und der Regeln der „Nesikin" zu verdrüugeu, während weder die vom Staat bestellten „Kronsrabbiner" noch die staatlichen „Nabbinerschulen" bisher das Vertrauen des Volkes haben erwerben können. Verschiedene Einschränkungen der bürgerlichen Rechte schlössen die Juden von gewissen Gewerben, besonders dem ländlichen Grundbesitz, aus; der Aufenthalt im eigentlichen Rußland ist auch jetzt