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Gottfried Keller. 2.
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Augen. In dieser Novelle hatte Keller alle Kraft, aber anch alle Zartheit nud feine Innigkeit seines Talents entfaltet. Der Stoff, der die nachtwandlerische Sicherheit eines Dichters erforderte, welcher hart am Rande der letzten Lebens­tiefen mit festem Schritt seinen Weg verfolgt, ist so rein in Poesie aufgegangen, die Novelle bringt in ihrer Entwicklung bis zur tragischen Katastrophe eine solche Reihe von Enthüllungen süßer und tiefschmerzlicher Art nnd ist dabei von einer solchen Wärme und Unmittelbarkeit, daß sie allerdings ihres Gleichen sucht. Indem der Dichter unbeirrt auf die Darstellung einer starken und reinen Leiden­schaft losgeht, die, wie eine Blume zwischen Schutt, unter den armseligsten, ver­kommensten Lebensverhältnissen emporgewachsen ist und deren jugendliche Träger lieber den Tod suchen, als sich vom Elend und von der Verkümmerung des Lebens anseincmderreißen lassen wollen, erfaßt er im Vorüberschreiten noch eine Fülle anderen Lebens. Die wundersamen Situationen, in denen sich die Liebe von Vrenchen und Sali aus kindlichem Spiel entfaltet, sich unter dem Leid und den häßlichen Eindrücken armseligster Existenz erhält und vertieft, die rasche Folge wechselnder, bunter Welteindrücke, die ihnen der eine Tag bringt, der ihr Schicksal entscheidet alles steht in zauberhaftem Licht, mit höchster Deutlichkeit uud doch von jenem wundersamen Schimmer umhaucht vor unseren Augen, der von der Darstellung einer edlen, weltvergessenen Leidenschaft ausstrahlt. Durch die Blätter vonRomeo und Julia cmf dem Dorfe" zittert der Sonnenstrahl und weht die Luft des einen Sommertages, der den Liebenden gegönnt ist, man meint ihren heißen Athem zu spüren und das Wehen der schwülen Sommernacht, die sie bestrickt; und doch ist das Ganze von unsagbarer Reinheit und seltenem künstlerischen Adel. Wohl endet die Erzählung mit einem schrillen Zerspringen der Saite, die so stark und voll getönt, aber der Dichter zeigt sich darin als echter Tragiker, daß er den leidenschaftlichen Irrthum und die ans dem Leid geborene wilde Glückssehnsucht des jungen Paares, die keine Geduld kennt, zu einer Nothwendigkeit erhebt, welcher die Liebenden nicht entrinnen können.

Nur einmal noch hat Keller in denLeuten von Seldwyla" die warme leuchtende Darstellung des Lebens und seiner seligsten Momente mit der Schil­derung dunkelster Seiten des Daseins und herber Conflicte verbunden, in der MeisternovelleDietegen", deren erste, groteske, grauenhafte Voraussetzungen bald untertauchen in dem Reichthum schöner Züge und einer prächtigen Entwicklung, aus der sich schließlich die Liebe Dietegens und Küngolts über Noth und Tod triumphirend erhebt. Scenen wie jene, wo der gerettete Knabe Dietegen neben seiner kindlichen Retterin ruht, und jene letzte, wo der durch alle Lebenswetter gehärtete Mann die vom Blutgerüst gerettete Liebste auf seinen Armen davon­trägt, gelingen in solcher Knappheit und Kürze, in so nachhaltiger Schlichtheit und Stärke des Ausdrucks nur dem echten Dichter.