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blick muß der Liberalismus sich zur eutscheideudeu Klarheit bringen, ob er seinen Staatsbegriff vervollständigen kann, ohne sein Lebensprincip aufzugeben. Wir bejahen die Frage mit voller Ueberzeugung. Aber das Bewußtsein dieser Antwort muß nun weite Kreise durchdringen.
Die Antwort kann nicht und soll nicht in Form wissenschaftlicher Lehren, sondern in der Form praktischer Entschlüsse gefunden werden. Soll der Bestand der Reichsgewalt, das heißt des Reiches, abhängig sein von den Launen und schwankenden Einsichten der Individuen, die die Wählermassen bilden und deren Streben und Verständniß in keinem Lande so zerrissen ist wie in Deutschland? Das ist die Frage nach der Selbständigkeit des nationalen Ganzen, welche in Gestalt der Steuerreform auftritt. Soll die Entwicklung der socialen Zustände, d. h. die Harmonie und Sicherheit des wirthschaftlichen Gedeihens der Nation, der Bestand derselben, dem laisssr allsr überlassen werden? Das ist die Frage, ob es eine positive oder nur eine negative Soeialpolitik giebt.
Die Steuerreform hat eine verfassungspolitische Seite, aber ebenso gut eine svcialpolitische,-indem sie ein die wirtschaftliche Kraft besser schonendes Princip der Lastvertheilnng sucht. Die Maßregel des Zollschutzes fällt, wie sogleich einleuchtet, ganz und gar in das Gebiet der positiven Socialpolitik.
Der manchesterliche Liberalismus beliebt, die volle Verwirklichung des Staatsbegriffs Reaction zu nennen. Reaction ist' ihm die Selbständigkeit der Reichsgewalt. Die Reichsgewalt soll das Instrument des Parlaments und das Parlament soll das Instrument der Wählermassen sein. Das hätte einen Sinn, wenn die Wählermassen, wie zur Zeit der ungebrochenen Oligarchie in England, nie eine andere Mehrheit senden könnten, als eine solche, die mit den Existenzfragen des Staates vertraut uud entschlossen ist, den Staat zu erhalten. Die Negierung znm Instrument eines Parlaments zu machen, in dem alle Tage eine Mehrheit von Polen, Dänen, Franzosen, Römern, Berlinern und Internationalen zusammenkommen kann, wäre selbstmörderischer Wahnsinn.
Reaction ist dem manchesterlichen Liberalismus der Zollschutz, vor allem der Getreidezoll. Wir lasen vor einiger Zeit in der „National-Zeitung", als das Blatt das unabsehbare Anwachsen der amerikanischen Getreideproduction besprach, die Folgen dieses Anwachsens seien nicht zu übersehen; man müsse sich damit trösten, daß die Geschichte nie unrichtige Wege gegangen. Ein vortrefflicher Satz, nur ein wenig zu allgemein gelassen. Der königliche Weg der Geschichte geht durch den Willen und Verstand der Völker. Der letzteren Schicksal ist das Product ihrer Gesammtanstrengung. Wenn die Römer, als Karthagos Herrschast über Sicilien, Spanien und Nordafrika, die reichsten Kornländer, sich ausbreitete, von Karthago billiges Getreide genommen hätten, mit dem Trost, daß die Geschichte noch nie unrichtige Wege gegangen, so wäre Italien bald