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wird es wahrlich nicht für unmöglich halten, daß ehestens nicht sowohl eine nothwendige Umkehr zur idealen Kunstgesinnung, zur lebendigen, aber innerlich reinen Poesie, soudern eine plötzliche, gewaltsame Umkehr zu jener hohlen Gespreiztheit, jenem verlogenen Pathos und jener fragmentarischen Geistreichigkeit, welche fälschlich „Idealismus" getauft werden, erfolgen könne. Wer gewisse, zur Zeit freilich noch nicht sonderlich ausfallende Erscheinungen der deutschen wie der französischen Literatur scharf und fest im Auge hält, wird eine Wendung der bezeichneten Art (soweit solche allgemein werden kann) nicht für unmöglich halten. Je toller die Orgie der „analytischen" Poesie, der Roman- und Dramendichtung, die sich rühmt, „wissenschaftliche" Prineipien in ihr Verfahren aufgenommen zu haben, um so gewisser der Katzenjammer der gestaltlosen Phrase und des falschen Pathos, durch welches dem „Gedanken" in der Poesie zu Ehren verholfen werden soll, und das sich doch so selten über Einfälle (eonLsttt nach Art der Italiener des 17. Jahrhunderts) erhebt. Keineswegs foll mit dieser Befürchtung eine Klage um das ausgedrückt werden, was sich neuerlich realistische Poesie zu uennen beliebt und als Consequenz der Anschauung vom Zusammenhange des Lebens und der Dichtung geehrt sein will. Je eher dieser falsche und in vielen Fällen schlechthin verächtliche Naturalismus in Wirkungslosigkeit und Vergessenheit sinkt, nm so besser wird es für unsere Literatur sein. Aber freilich ist die Aussicht, einen bösen Geist zu bannen und dafür sieben ärgere hereinzunehmen, so wenig erquicklich, daß es gestattet sein muß, zunächst einmal gewisse Ausschreitungen und unerfreuliche Auswüchse der modernen Sensations- und Erfolgsliteratur darauf zu prüfen, ob sie in der That als Resultate der Lehre betrachtet werden dürfen, daß die echte Poesie ein gewisses Maß von Wirklichkeit, von Lebenswärme in sich schließen müsse, ob zwischen dem, was echter poetischer Realismus ist, und dem, was sich in Ermangelung anderer Bezeichnung so zu nennen beliebt, überhaupt eine Gemeinsamkeit vorhanden ist. Ehe wir uns beweisen lassen, daß uns nur die hohle Rhetorik und die esprithaschende gestaltlose Reflexion vom Uebel des naturalistischen Unfugs erlösen können, wollen wir die Realität der Literatur näher ins Auge fassen, die hier den Popanz abgeben muß.
Sagen wir es gerade heraus, daß Dreiviertel dessen, was sich heutzutage poetischer Realismus und Naturalismus nennt, der Wirklichkeit und der Natur so fern und ferner steht, als ihr die seraphische Lyrik gewisser Klopstocknach- ahmer oder die abgeblaßte conventionelle Romantik der Nachfahren de la Motte Fvuques nur immer gestanden haben. Das wäre Leben, was sich in unseren Sensationsuovellen, in unseren sogenannten Lustspielen und Possen, oder einen Schritt höher hinaus, in angeblich gesellschaftlichen Dramen und Tendenz- romcmen spreizt? Diese paar verkommenen Verbrecher, courtisaueuhaften Schau-