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Ganze Geschichtsepochen faßt ein geistreicher Mann oft in einen einzigen Ansdrnck zusammen. Auch kleinere Perioden haben ihre „geflügelten Worte". Kein Begriff ist aber so sehr dem natürlichen Entwicklungsboden des letzten halben Jahrhunderts entsprossen und so enge mit allen Erscheinungen des Völkerlebens verbunden als der Begriff der Solidarität. Wir sprechen im allgemeinen von der Solidarität der Nationen in den Culturfortschritten, von der Interessen-Solidarität überhaupt, wir sprechen speciell von der Solidarität zwischen Landwirthschaft und Industrie, von der Solidarität der großen Geldmärkte, ja sogar von der Solidarität im Unglück, welche wohl jede Nation schon, durch das unausbleibliche Mitbetroffenwerden bei großen Krisen des Auslandes, zu spüren Gelegenheit gehabt hat. Aus der einfachen Bewegung des Begriffes der Solidarität ergiebt sich als nothwendige Folgerung die Forderung der Gegenseitigkeit, denn ohne Ausgleichung kann keine, wenigstens keine harmonische Wechselbeziehung gedacht werden. Ausgleichung ist in der Natur eines der fundamentalsten Gesetze. Kälte und Wärme, Leere, Luft und Licht gleichen sich aus. Und sagen wir nicht auch bei Betrachtung des geistigen Entwicklungsund des Dcnkprvcesses, daß die Wahrheit in der Mitte liegt, hat nicht einer der größten Philosophen gerade auf die Ausgleichung der Gegensätze ein logisches Entwicklungsgesetz begründet?
Ans die Zollpolitik angewandt, begegnet die Forderung der Gegenseitigkeit oder der Ausgleichung verschiedenen Anschauungen; die nationalen Freihändler erklären die Reciprocität für die Grundlage und das Ziel ihrer Bestrebungen, die Manchestermänner und ihre Anhänger weisen sie zwar nicht zurück, aber messen ihr doch auch keine absolute Wichtigkeit bei. Man sollte meinen, daß gerade der Begriff des Freihandels, als freier internationaler Verkehr aufgefaßt, den Begriff der Gegenseitigkeit unbedingt in sich schließen müsse, denn jeder Mangel daran würde doch dem Princip widersprechen. Das Manchesterthum belehrt uns aber, daß sich in diesem Falle die Renitenten selbst schaden, weil „der Vermehrung des Ankaufs von fremden Erzeugnissen die Vermehrung unserer eignen Productivn oder die Vermehrung der inländischen Arbeit zur Seite gehe." Wir wollen diese Begründung etwas näher ansehen.
Durch die einseitige Anwendung der internationalen Arbeitstheilung, dadurch, daß unser Vaterland, ohne besondere Rücksicht auf größere oder geringere Gegenseitigkeit von Seiten der umgebenden Länder, fremde Waaren zollfrei einläßt, erhält Deutschland eine unverhältnißmäßige Menge von fremden Tauschwerthen auf den Hals. Deutschland beruft sich dabei auf das Princip und hat Recht, aber es vergißt, daß dies Princip noch keine Wirklichkeit besitzt. Was principiell verhältnißmüßig sein würde, wird concret unverhältnißmcißig. Nur in demjenigen Falle bleibt das Normalverhältniß der deutschen und ausländischen