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So sehen wir in den Städten allmählich eine freiere und nationale Lebens- anschauung sich geltend machen, die in mancher Beziehung schon an die Ideen erinnert, die erst in neuester Zeit zur Geltung gekommen sind. Gleichwohl darf man in diesen republikanischen Gemeinwesen keineswegs eine demokratische, die Gleichberechtigung aller Bürger anerkennende Tendenz, mit andern Worten die Idee des Staatsbürgerthums suchen. Noch waren die Städte von dem alten, rein aristokratisch organisirten Rathe regiert, zu dem nur eine ganz bestimmte Anzahl von „Geschlechtern" Zutritt erlangt hatte. Jetzt aber, nachdem die Unabhängigkeit nach außen hin errungen war, regt sich zum ersten Male im Innern eine demokratische Opposition gegen die Geschlechter-Aristokratie. Je mehr der Wohlstand und damit eine behagliche, ja luxuriöse Lebenseinrichtung in den Städten überHand nahm, um so größere Bedeutung mußte der zu einer großen technischen Geschicklichkeit gelangte, aber von den politischen Geschäften noch vollkommen ausgeschlossene Handwerkerstand erlangen. Längst schon hatten sich die verschiedenen Handwerke zu gemeinsamer Verfolgung ihrer Interessen in den Zünften und Innungen organisirt, an deren Spitze ein Amman oder Zunftmeister stcmd. Diese Gemeinschaften hatten nicht blos, wie die patri- zischen Geschlechter, ihre gemeinsamen Trinkstuben, sondern sie hatten auch Versammlungen, in denen sie über wichtige gemeinsame Angelegenheiten berathschlagten und Beschluß faßten. Gegen Ausgang des 13., noch mehr aber am Anfange des 14. Jahrhunderts beginnt nun dieser sestgeschlossene Handwerkerstand auch Theilnahme an den Regierungsgeschäften, namentlich Zutritt zum Rathe zu erstreben. Wo sich die Geschlechter ernstlich und nachdrücklich diesem Ansinnen widersetzten, kam es zu blutigen Konflikten, in denen meist die abgehärtete und straff organisirte Handwerkerschaft den Sieg über die Geschlechter davontrug. Aus diesen Bewegungen ging aber eine nene städtische Verfassung hervor, die in den norddeutschen Städten beinahe einen rein demokratischen, in den süddeutschen einen aus aristokratischen und demokratischen Elementen gemischten Charakter trug. Im ersteren Falle ging die Leitung der politischen Geschäfte auf einen zum größten Theile von den Zünften besetzten Rath über, im andern Falle theilten sich Geschlechter und Zünfte zu gleichen Theilen in die Leitung der Stadt. An die Spitze der gesammten Verwaltung und Regierung trat in vielen Städten eine rein demokratische Magistratur, die aber uach dem, wie es scheint, der politischen Entwickelung der Menschheit innewohnenden Gesetze oft in eine gesetzmäßige Tyrannis umschlug: die der Ammanmeister. Diese demokratisch-republikanische Verfassung hat dann in den meisten deutschen Städten bis gegen Ende des Mittelalters fortbestanden.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß es in letzter Instanz der zu Wohlstand und Ansehen führende Handel und Verkehr war, der die Städte