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Literatm.

Der Schulgesaug und seine Bedeutung für die Verstandes- und Gemüthsbildung der Jugend. Von Albert Tottmaun. Herausgegeben vom Allgemeinen Deutschen Mufikvereiu. Leipzig, C. F. Kcihnr, 1879.

Unzähligemale ist im Laufe der letzten Jahre auf die einseitig verstandes­müßige Richtung, die unser Unterrichtswesen mit der Zeit genommen hat, hin­gewiesen und diese Einseitigkeit für manche beklagenswerthen sozialen Erschei­nungen der Gegenwart verantwortlich gemacht worden. Wenn Schiller die Aufgabe der Erziehung als eine vierfache bezeichnet hat, dem Menschen nämlich zu verleihen: Gesundheit, Einsicht, Sittlichkeit und Geschmack, so kann man wohl behaupten, daß die Schule gegenwärtig von diesen vier Zielen in erster Linie das zweite verfolgt, ihm zunächst das erste. Anstatt der Sittlichkeit aber be­gnügt sie sich im wesentlichen mit der Sitte, sie verwechselt dasgute Betragen" mit Gemüths- und Charakterbildung, uud was gar für die aesthetische Bildung der Jugend bisher gethan worden ist, mit Bewußtsein gethan worden ist, das ist so gut wie null.

Erst in den letzten Jahren hat man angefangen, diese Ungleichmäßigreit etwas zu beseitigen, und es ist erfreulich, daß mau sein Augenmerk dabei zuerst auf das veruachlässigtste Ziel gerichtet hat. Freilich hat es nicht an beschä­menden äußereu Anlässen dazu gefehlt. Ohne die Niederlagen, die das deutsche Gewerbe auf den Weltausstellungen erlitten, ohne die bitteren Lehren, die wir dort über das Zurückbleiben unseres Geschmackes empfangen haben, würde wahr­scheinlich weder der Zeichenunterricht die Umgestaltungen erfahren haben, an deren ersten Erfolgen wir uns bereits erfreuen, noch würde von verschiedenen Seiten der Versuch gemacht worden sein, wenigstens in unseren höheren Schuleu auch der Kunstgeschichte ein bescheidenes Plätzchen zu bereiten. Das vorliegende Schriftchen ist 'eiue Art Ergäuzuug zu diesen Bestrebungen. Es weist auf eineu zweiten, neben dem Zeichenunterrichte bisher recht stiefmütterlich behandelten Unterrichtszweig hin, den Gesangunterricht, und erwartet von einer verständigen Reorganisation desselben einen wesentlichen Einfluß namentlich auf die sittliche, die Gemüthsbildung der Jugend.

Der Verfasser erörtert zunächst, welche Aufgaben ein richtig geleiteter Ge­sangunterricht in der Schule erfüllen kann und soll. Er zeigt, welchen wesent­lichen Dienst derselbe in seinem theoretischen Theile, dessen Elemente der Ver­sasser niit Recht auch für die Volksschule fordert, und dnrch die Schulung des musikalischen Gehörs der Verstandesbildung leisten könne, wie wichtig er durch gewissenhafte Behandlung der Stimm- und Athmuugswerkzeuge für die Gesund­heit werden, wie er durch Nvthigung zn reiner und richtiger Aussprache dem Sprachunterricht in die Hände arbeiten könne. Das Hauptgewicht aber legt der Verfasser ans den veredelnden Einfluß, den der Gesangunterricht haben werde, weun der Jugend nicht blos in textlicher, sondern vor allem auch iu musikalischer Beziehung nur Gutes, Edles, Werthvolles, nichts Triviales geboten werde. Diesem Ideal stellt der Verfasser dann die Wirklichkeit gegenüber. Er beklagt, wie vernachlässigt dieser Unterrichtszweig im allgemeinen sei, welchen Zufällen unterworfen, wie im günstigen Falle diejenigen, die ihn zu ertheilen haben, etwas Klavier oder Geige spielen gelernt, deshalb aber noch lange keine Befähigung zum Gesangunterrichte haben. Er hätte hinzufügen können, daß