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Poesie und Religion in der neueren deutschen Literatur.
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gischen, sondern auf einer geistigen Religion beruht, immer auch einen Kreis von Vorstellungen voraus. Aber, soweit diese Vorstellungen wirklich nur Ausdruck der Frömmigkeit rein als solcher sind, wohnt ihnen wesentlich eine Beschaffenheit bei, vermöge deren sie das kalte Licht des rechnenden und schnei­digen Verstandes nicht vertragen. Religiöse Vorstellungen haben immer und wesentlich etwas Sinnbildliches, Ahnungsvolles, Lebenswarmes, Tiefsinniges, Prophetisches. Da handelt es sich weniger um Schärfe und Klarheit, als um Tiefe und Fülle. Sie bergen einen Reichthum, der stets nur abnimmt, wenn man daran geht, sein Metall zu baarer, im Alltagsleben gangbarer Münze aus­zuprägen. Und ziemlich dasselbe gilt von der Poesie. Der reflektirende Ver­stand führt eine bildlose, farblose, nackte, kühle Sprache. Nöthigt er als Tyrann eine solche dem religiösen Leben oder der Dichtkunst auf, so müsseu beide ver­stummen. Wie faßte aber Gottsched, einer der Heroen der Aufklärung, die Poesie? Er band sie an mechanische, den Franzosen entlehnte Regeln nüchterner Reflexion und machte zu ihrem Inhalt und Zweck eine nüchterne Moral. Seine kritische Dichtkunst liest sich, wie David Strauß") mit Recht bemerkt, stellenweise wie ein Kochbuch. Seine Anleitung z. B. zur Verfertigung einer guten Fabel klingt genau, wie ein Rezept. Zuerst, sagt er, wühle man sich einen lehrreichen, moralischen Satz (M. einen lehrreichen und einen moralischen). Dann suche man eine Handlung, darin dieser Satz sich zeigt, u. s. w.**) Nach demselben Lehrbuche war Homer ein vortrefflicher Moralist:Durch die Jlias wollte er lehren, daß Uneinigkeit kein gut thue; durch die Odyssee, daß die Abwesenheit eines Herren aus seinem Hause oder Reiche sehr schädlich sei." Sollte aber jemand von uns auf die Meinung gerathen, ein Dichter dürfe und solle uns zu der Welt des göttlich Geheimnißvollen, des Unendlichen, des für den Verstand Unfaßbaren emporheben, fo sagt dagegen Gottsched:Kluge Dichter bleiben bei dem Wahrscheinlichen, d. h. bei menschlichen und solchen Dingen, deren Wesen und Wirken zu beurtheilen, nicht über die Grenzen unserer Einsicht geht." Der Kopf müsse erst recht in die Falten gerückt sein, so werde hernach die Feder des Dichters schon von selbst folgen. Ein zweiter Gottsched war der statt vieler anderer noch erwähnte außerordentlich einflußreiche Heros der Aufklärung: Friedrich Nicolai. Dieser hatte früher einmal im Verein mit Lessing gewirkt und sich wirkliche Verdienste erworben. Später aber, als nicht nur Klopstock und Lessing, sondern auch schon Goethe hervorgetreten war, wnrde und blieb Nicolai der beschränkteste und rücksichtsloseste Anführer der Fana­tiker des Nützlichen, welche gegen Versündigungen an der Kunst gleichgiltig

*) Klopstock's Jugendgeschichte (Bonn, 1378), S. 16 (bes. Wdr, aus den gesammelten Schriften). *») Gottsched, Kritische Dichtkunst, S. 161 f., 346.