Beitrag 
Vorahnungen moderner Naturerkenntniß bei Lucrez.
Seite
408
Einzelbild herunterladen
 

408

für die Form der Sinn. Was von seinen Werken in Auszügen, Bruchstücken und Anführungen erhalten ist, das erklärt es zur Genüge, weshalb die größeren Werke des Vielschreibers in späterer Zeit von den Griechen wenig, von den Römern noch weniger gelesen wurden. Für die Menschen latinischer Zunge ward nun der Dichter der Mund des Philosophen, sein Interpret und sein Prophet. Lucrez hat wie in einem goldenen Spiegel die zerstreuten Lichtstrahlen noch einmal aufgesangen und wirft sie in breiter Schimmerspur durch die Jahrhunderte.

An die Spitze aller naturwissenschaftlichen Wahrheiten stellt der Dichter den grundlegenden Satz (I, 150):

Nichts entsteht Je aus dem Nichts durch göttliches Wirken.

Dieser ergänzt sich durch den anderen Satz (I, 215 fg.):

Alles gewordene löst die Natur

Nur auf in die Körpcrchen, draus es geworden,

Und sie zerstört kein Ding bis in's Nichts.

So hatte schon Empedokles gelehrt:

Keines von dem, was sterblich heißt, Kennt ein Entstehen, keinem naht Allverderblichen Todes Verhängnis;, Sondern es ist ein Mischen nur, Ist ein Entmischen des früher gemischten; Aber der Mensch nennt's Werden und Tod.

So lehrt auch die Wissenschaft unserer Tage. Der antike Lehrdichter führt den Beweis natürlich nur aus Thatsachen, welche ohne das Experiment nnd ohne exakte Beobachtung für jedermann zu Tage liegen, aber er fuhrt ihn bündig und scharf. Würden die Dinge aus dem Nichts, so argumentirt er so könnten Menschen und Thiere aus jedem Element hervorgehen, so könnten Blumen und Früchte zu jeder Jahreszeit entstehen, so konnten Kinder mit einem Male zu Jünglingen werden u. s. w. lauter Dinge, welche wir jetzt niemals vorkommen sehn. Gingen ferner die untergehenden Dinge in's Nichts über, so könnte jedes verschwinden, ohne daß es einer auslosenden Kraft bedürfte, so müßte aller Stoff längst aufgebraucht sein, und es könnte, da ja nichts aus uichts entstehen kann, überhaupt nichts mehr entstehen, so bedürfte es nicht verschiedener Gewalt für die Zerstörung harter und weicher Gefüge u. s. w. Daß das Vergehen nur ein Schein ist, daß die unsern Sinnen entschwundenen Stoffe nur andere Verbindungen eingegangen sind, zeigt der Dichter an dem Beispiele des befruchtenden Regens, wobei er, nach Dichterrecht, einen sinnigen Naturmythus verwerthet (I, 250256; 262-264):

Wohl schwindet der Regen, wenn in mächtigen Güssen Ihn Vater Aether in Frühlingsgewittern