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Redaktivnsbureau der „Neuesten Nachrichten", des Hauptvrgnns des Münchner Reichstrenen, zunächst liegenden Straßen, als Abends das Resultat der Stichwahl verkündet wurde; seit deu Tagen des letzten großen Bierkrawalls hatte man nicht mehr so wilden Pöbelexzeß erlebt; aber auch noch keine so häßliche Koalition, als wie sie hier zwischen dem würdigen Stndtpfarrer von S. Peter, dem Reichstagsabgeordneten für München II, Westermeyer, und dem Redakteur des Vaterlandes, Dr. Sigl, und zwischen Ultramontanen aller Schattirnngen nnd der fortgeschrittensten Sozialdemokratie zu Stande gekommen war. Dieser mnßte Stauffenberg zum Opfer fallen, allein seine Niederlage wäre trotzdem unerklärlich, wenn die Liberalen ihre volle und ganze Schuldigkeit gethan, wenn nicht auch hier die obengenannten lokalen und persönlichen Empfindeleien und Reibungen, Verstimmungen und Verbitterungen geherrscht und sich in der Wahlenthaltung oder gar im Uebergcmg zum Gegner, der als Magistratsbeamter ja seine Verdienste hat, geltend gemacht hätten- Konflikte und Zerwürfnisse, die ganz gut bei einer nenen Gemeindewahl einen Ausgleich hätten verlangen können und billige Entscheidung hätten finden müssen, wurden in unglückseligster Verkennung der Lage mit rücksichtslosem Egoismus hier bei der Reichstagswahl in den Vordergrund geschoben. Mit Befriedigung hören wir, daß der Wahlkreis Holzminden gut zu machen sich anschickt, was München verdorben.
Ein eigenthümliches Stück Wahlgeschichte spielte sich im Wahlkreis Forchheim ab. Der bisherige Vertreter desselben, Fürst Hohenlvhe-Schillingssürst, der Botschafter des deutschen Reichs in Paris, hatte von der fortschrittlich gesinnten Majorität eine fast einem Mißtrauensvotum ähnlich sehende Erklärung erhalten, daß man seine Wiederwahl nicht mehr in Aussicht nehmen könne. Die darauf wohl erwartete Verzichtleistuug des Fürsten trat nicht ein, vielmehr erklärte dieser an eine solche gar nicht zu denken. Nun suchten seine Gegner, die namentlich in Kulmbach ihren Sitz haben, den bisherigen Vertreter für Ausbach, Bezirksgerichtsrath Herz, zu bestimmen, eine auf ihn fallende Wahl anzunehmen nnd verharrten trotz der bestimmten Weigerung und Ablehnung des genannten Herrn, welcher mit seiner Kandidatur nicht eine Stichwahl und den zweifellosen Sieg der Ultramonianen verschulden wollte, am Wahltage auf seinem Namen; der vorauszusehende Erfolg war, daß die gefürchtet« Stichwahl zwischen Hohenlohe nnd dem klerikalen Kandidaten eintrat und es nun sehr fraglich ist, ob letzterer, auch weun die „Herz-Wähler", wie man sie nannte, sich nun doch auf die erstere Seite schlagen, zurückzudrängen sein wird.
So haben auch bei uns die Reichstagswahlen nicht dazu beigetragen, unsere Zustände als besonders erfreuliche zu zeigen: wie in anderen Theilen des Reichs: dieselbe Unklarheit, Zerfahrenheit, Eigen- und Sondersinn, Mangel an politischem Leben, an Organisation und, mit weuig Ausnahmen, vor allem an patriotischer, für das Wohl des Ganzen zu persönlichen Opfern bereiter und entschlossener Selbstverlengnung! Auch bei uns thut es Noth, daß der feste Boden wieder gewonnen werde, auf dem wir doch noch vor einigen Jahren gestanden haben.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. HanS Blum in Leipzig, Vertag von «. L. Herbig in Leipzig. - Druck von Hüthcl Herrnmnu in Leipzig.