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Populäre Unterhaltungsliteratur des zwölften Jahrhunderts. I.
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populäre Anterhaltungsliteratur des zwölften Jahrhunderts.

Von A. Leonhard. I.

Die poetische Literatur des zwölften Jahrhunderts durchzieht ein schroffer Gegensatz der Gefiihlsweise: der zwischen heiterer Weltfreude uud himmelan­strebender Weltflncht. Beide befehden einander in heftiger Polemik und kon- knrriren stetig um die Gunst des Pnbliknms. Die Kleriker behandeln mora­lische Gegenstände, alt- und ueutestamentliche Stoffe uud Legenden, schreibe!? Satireu gegen die Weltlichkeit und den Lebensgenuß, gegen die Mode und den Putz, gegen die Freude au Gastereien, Jagden uud schönen Frauen; sie suchen die Herzen der Zuhörer für die Seligkeit des Jeuseits zu bereiten. Alle Freude und Lust dieser Welt, Macht, Ruhm uud Ehre, Mäunerschlachteu uud ritter­liches Leben verherrlichen dagegen die fahrenden Spielleute; sie erscheinen bei allen Festlichkeiten, bei Gastmählern und Hochzeiten, auf dem Markte vor dem Volke und an den Höfen der Edlen uud sorgen durch Tanz- nud Liebeslyrik, durch Gesang von tapferen Helden, von ihren Kämpfen und ihrem fröhlichen Sinnenleben für die Ergötzuug der Anwesenden und die Erhöhung der Fest­stimmung. Gar oft lockeu sie aus der Kirche, wo der Priester Demuth uud Entsagung predigt und gegen übermäßige Vergnügungssucht uud ausgelassene Sinnenfrende seiue mahnende Stimme erhebt, das begehrliche, lebensfrohe Volk herbei zum Vortrage ihrer weltlichen Mären.

Doch überall, wo Gegensätze sich bekämpfen, finden wir, daß sie im Ver­laufe des Kampfes sich einander nähern und Berührungspunkte finden. Den­selben Vorgang sehen wir anch in der Literatur des zwölften Jahrhunderts sich vollziehen. In einzelnen deutschen Gaueu, besonders in Baiern und in den rheinischen Gegenden, wo das Publikum von beiden Seiten, von den Geistlichen wie von den Vertretern der volksthümlichen Dichtung mit besonderem Eifer umworben wird, tritt um die Mitte des Jahrhunderts auf literarischem Gebiete eine interessante An- und Ausgleichung des Geistlichen nnd Weltlichen eiu. Die Geistlichen verleihen ihren religiösen Stoffen einen gewissen sinnlichen Reiz uud befriedigen das Bedürfniß des Laienpublikums nach kriegerischer Darstellung und Verherrlichung der Heldenhaftigkeit durch Schilderung von Kämpfen und Schlachten ritterlicher Helden, die sie mit Geschick in ihre frommen Erzählungen einzuweben wissen. Die Spielleute andrerseits stecken jetzt die be­liebten Helden altgermanischer Sage in das heilige Gewand eines Kreuzritters,