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Pariser Reisebeobachtungen.
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reich der Familienvater häuslicher ist. als in Deutschland. Doch bin ich weit entfernt, ihm daraus ein moralisches Verdienst zu machen. Vielleicht hat er diese ganze Tugend nur der verständigeren Tageseinteilung zu verdanken, wie sie in den französischen Städten und ganz besonders in Paris besteht. Diese Eintheilung beruht auf der einfachen Erwägung, daß die Hauptmahl­zeit am zweckmäßigsten nicht in die Mitte, sondern an das Ende des Arbeits­tages gelegt wird. Das Gefühl der Behaglichkeit, welches den Körper nach kräftigem Mahle beherrscht, verbunden mit dem Bewußtsein, die Arbeit des Tages vollbracht zu haben, erzeugt eine Stimmung, die nicht allein für be­schauliches Ausruhen, sondern auch für die Thätigkeit der Verdauungsorgane die günstigste, also für die geistige wie die körperliche Gesundheit sehr zuträglich ist. Auch ist kaum eine geeignetere Disposition für theatralische Genüsse denk­bar, als gerade diese. Wie thöricht erscheint dagegen unsere Lebensweise! Wir reißen unsern Arbeitstag in der Mitte auseinander, laden uns, wenn wir recht fleißige Leute sind, den Magen in möglichster Hast voll mit schweren Gerichten, machen uns daneben allerlei Gedanken über das, was in der zweiten Hälfte des Tages noch geschafft werden soll und gehen nach kurzer Pause, in demselben Augenblicke, da das körperliche Wohlbefinden eben recht beginnt, wieder an die Arbeit. Von der Arbeit stürzen wir Abends schleunigst ins Theater, meist in einer Stimmung, die in der ersten halben Stunde höchstens für die grimmigsten Trauerspiele empfänglich wäre, um nach beendigter Vor­stellung mit einem gelinden Heißhunger über die Speisekarte eines Restaurants herzufallen und schließlich um Mitternacht mit einem noch unangenehm ge­füllten Magen schlafen zu gehen! Indeß, zurückkommend auf die ent­wickeltere Häuslichkeit der Familienväter, so liegt ja auf der Hand, daß der Pariser des Abends unmittelbar nach dem Genuß seines üblichen Quantums Tischwein, der meistens reichlich mit Wasser gemischt wird, und nach der Tasse trefflichen Kaffees, begleitet von dem unvermeidlichen Cognac, nach weiterem Getränkegenuß ebensowenig das Bedürfniß haben wird, wie wir Deutschen in entsprechender Lage nach unserm Mittagsessen. Das Natürlichste ist viel­mehr, daß er sich im Lehnstuhl streckt, mit der Gattin die Angelegenheiten des Hauswesens bespricht, sich an Beve"s Kauderwälsch ergötzt kurz daß er der beste Ehemann ist, auch wenn er es nicht wollte.

Bis auf den heutigen Tag herrscht bet uns die Ansicht, daß Dasjenige, was wir so gern dasdeutsche Gemüth" nennen, den Franzosen schlechterdings versagt sei. Ein gut Theil ist Wahrheit daran. Das psychische Leben unserer Nachbarn schwankt beständig zwischen leidenschaftlichem Affect und höchst ver­ständiger Reflexion; in der gemäßigten Zone gemüthlichen Empfindens sind sie nicht heimisch. Aeußerst empfänglich für die rhetorische Phrase, können sie da, wo sich dem Deutschen das innerste Herz bewegt, gradezu gefühllos sein.