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verdrängt. Wenn Herr Hänel etwas mehr in der praktischen Jurisprudenz Bescheid wüßte, so könnte er sich erinnern, daß in mehr als einem deutschen Staat kürzlich noch der Landesherr als summus episeoMS auf dem Wege der Gnade die Ehen scheiden konnte, welche das Conflstorium in Ermangelung schriftgemäßer Scheidungsgründe nicht scheiden durfte. Herr Hänel meinte aber, die vorliegende Kirchenverfassung führe den landesherrlichen Summepi- scopat zum ersten Mal in die kirchliche Praxis ein und zwar mit einer ähnlichen Macht, wie der Papst über das innere Leben der Gläubigen übt. Gegen solche Unkenntniß der elementaren Natur des Gegenstandes ist wirklich nichts zu sagen.
Herr Hänel theilt vollständig die Virchow'sche Anschauung, daß die Kirche keine Befugniß haben soll zur Feststellung der Glaubenslehre, womit freilich der Begriff einer Kirche überhaupt aufhört. Denn die Kirche ist eine Gemeinschaft solcher, die denselben Glauben suchen aus der Einheit eines historisch bewährten Lehrgrundes. Der Glaube ist eine That, die nur lebendig bleibt, indem sie sich beständig in jedem Einzelnen erneut. Aber es wäre traurig um die Menschheit bestellt, wenn deshalb jedes Individuum einen Glauben apart für sich haben müßte. Weil die Herren, die von Religion und Glauben so viel wissen, wie der Blinde von der Farbe, sich gedrungen fühlten, über diese Gegenstände zu sprechen, deshalb kamen so wunderliche Dinge zum Vorschein, wie wir sie am 26. und 28. Februar hören mußten. Herr Hänel entsetzte sich, ganz wie Herr Virchow, vor der Möglichkeit, daß die Kirche ein Bekenntniß aufstellen könnte, was sie bekanntlich schon seit mehr als 1000 Jahren gethan hat. Und nicht bloß einmal hat die Kirche ein Bekenntniß aufgestellt, das Wesen der Kirche besteht vielmehr in der Erneuerung und Entwickelung des Bekenntnisses, eine Entwickelung, welche die katholische Kirche auf ihrer Art in organischer Weise erreicht, während die evangelische Kirche sie bisher zu ihrem Schaden nur in unorganischer, subjectiver Weise erreichen konnte. Herr Hänel sprach nun unmittelbar hintereinander folgende widersprechenden Sätze aus: Zum Begriff der Kirche gehört ein bestimmtes Bekenntniß, aber die Kirche kann kein Bekenntniß durch ihre Organe schaffen, sondern dies können nur die einzelnen Gläubigen thun. — Dann giebt es aber eben keine Kirche. dann kann es nur ganz ephemere Verbindungen einzelner Häuflein von Gläubigen geben, die sich heute zusammenfinden, während morgen jeder Einzelne aus solchem Häuflein sich wieder in einer andern Verbindung befindet. Das Wahre ist jedoch, daß die Kirche durch verfassungsmäßige Organe ihren Lehrgrund bewahrt und entwickelt, welcher Entwickelung die individuelle Glaubensbildung oscillirend nachfolgt, wie es in jeder geistig lebendigen Gemeinschaft ist. Denn jede solche Gemeinschaft ist das Angezogenwerden von einem einheitlichen Mittelpunkt und das