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Als der Redner nun endlich darauf kam, warum denn die Kirchenverfassung unannehmbar sei, bezeichnete er als die zwei Hauptfehler: einmal die synodale Richtung, zweitens das landesherrliche Kirchenregiment. Der Redner will nämlich, wie bekannt, keine Aktion der kirchlichen Gemeinschaft für Kirchengestalt und Kirchenordnung und am allerwenigsten für Kirchenlehre. Eine solche Meinung läßt sich ja hören, aber sie muß nicht so begründet werden, daß buchstäblich Alles aufhört. Was wir jetzt nach eignem Gehör berichten wollen, dafür sind wir bereit, hundert Ohrenzeugen zu stellen. Denn wunderbar wäre es in der That nicht, wenn die Freunde des Herrn Vtrchow in ihn drängen, daß er seine Rede im stenographischen Bericht bei dieser Partie wesentlich ändert. Was er aber wörtlich gesagt hat, ist Folgendes: Er fand es erschrecklich, daß der Generalsynode im § 7 ze. der Generalsynodalordnung die Regelung der kirchlichen Lehrfretheit beigelegt wird. Er meinte nämlich, die kirchliche Lehrfreiheit sei in der protestantischen Kirche seit zwei Jahrhunderten ohne Schranken gewesen. Ob der Mann wohl vom Mond herabgekommen ist? Hat er nicht beispielsweise von der Amtssuspension des Prediger Sydow durch das brandenburgische Consistoriurn gehört? Oder meint er vielleicht, alle solche Maßregeln und ähnliche seien lediglich auf Grund usurpirter Amtsgewalt erfolgt? Dann scheint er also allen Ernstes zu glauben, es könne eine kirchliche Gemeinschaft irgend einer Art bei schrankenloser Lehrfreiheit bestehen, sie könne erlauben, daß auf ihren Kanzeln Mord und Unzucht gelehrt wird.
In Wahrheit handelt es sich bei der Regelung der Lehrfreiheit durch die Generalsynode um eine Erweiterung der jetzigen Schranken der kirchlichen Lehrfreiheit. Daß es Köpfe giebt, in denen der Begriff einer Lehrfreiheit ohne alle und jede Schranken Eingang findet, die sogar annehmen, diese Lehrfreiheit sei das Wesen des Protestantismus, diese Thatsache der Welt zu zeigen, war Herrn Virchow aufbehalten. Dabei verwechselte er natürlich immerfort die Freiheit des individuellen Glaubens und Gewissens mit der Lehrfreiheit. Die protestantische Kirche straft allerdings niemals die Gesinnung, wie es die katholische Kirche thut, die evangelische Kirche erwartet, bis die Gesinnung die Früchte böser Thaten zeitigt, und überläßt deren Strafe dem Staat. Aber bei dieser absoluten Achtung vor den Schranken der Inner- lichkeit kann die evangelische Kirche doch nicht zulassen, daß jede Art von Gesinnung, auch die schändlichste oder einfältigste, von ihren Kanzeln herab offenbart oder verbreitet werde.
Der zweite Stein des Hauptanstoßes ist für Herrn Virchow das landesherrliche Kirchenregiment. Er wandte sich gegen die frühere Ausführung des Cultusministers, daß dieses Kirchenregiment in Preußen historische Thatsache sei. Die Probe der Gelehrsamkeit, die nun folgte, war wiederum prachtvoll. Jener Herzog nämlich, der sich vom Großmeister des katholischen deutschen Ordens zum weltlichen Landesherzog und, wie alle damaligen Reichsfürsten. welche das jus retormtmäi übten, zum Landesbischof machte, erklärte, er übernehme damit aliens, ollicig,. Nun, alle Fürsten haben damals ihr Bischofsamt nur als ein Nothamt angesehen, weil die Kirche selbst jede Reform jahrhundertelang verweigert hatte. Natürlich war in der katholischen Zeit das Bischofsamt nicht Sache der Fürsten gewesen und, indem sie es übernahmen, übernahmen sie ein bis dahin alivuum <M- cium. Diese Gelehrsamkeit, die er kurz vorher wahrscheinlich beim Durchblättern eines Buches gefunden, aber nicht verstanden, kramte Herr Virchow aus. Aber es sollte noch weit besser kommen. Er meinte, ein landesherrliches Bischofsamt bestehe außer in Preußen nur noch in Rußland. Herr Virchow vergißt, daß