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Jules Michelet. I.
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aufgedrückt. Der gallische Ungestüm, der gallische Leichtsinn, die gallische Sinnlichkeit, die gallische Prahlerei tadelt Michelet oft mit Schärfe an dem modernen Franzosen, dem Kinde des 19. Jahrhunderts. Im Grunde aber sind ihm alle diese Fehler doch nur Uebertreibungen und zum Theil nicht eben unliebenswürdige Uebertreibungen jener Eigenschaften, in Folge deren nach seiner Ansicht die Franzosen die vervollkommnungsfähigste Nation der Welt, die Träger der höchsten civilisatorischen Ideen, die Missionäre der Frei­heit und Cultur sind.

Wenige Franzosen haben den Charakter ihres Volkes so scharf erfaßt wie Michelet, wenige die sonderbare Mischung vielfach widersprechender Eigen­schaften des französischen Volkes mit gleicher Liebe und gleicher Kunst zu einem Gesammtbilde zu gestalten getrachtet. Es fehlt dem Bilde oft genug an plastischer Bestimmtheit und einheitlicher Abrundung, der allerdings schon der überaus bewegliche Charakter des darzustellenden Gegenstandes widerstrebt; aber in der Farbengebung ist Michelet Meister. Mit feinem, durch Studium und Beobachtung ausgebildetem Gefühl für das Charakteristische, faßt er einen besonderen Zug auf, um ihn sofort mit der ganzen schöpferischen Energie seiner dichterischen Einbildungskraft zum Mittelpunkte eines Charakterbildes oder eines Sittengemäldes zu machen. So reihen sich in seinen späteren halb poetischen halb philosophischen Schriften in bunter mosaikartiger Zusammensetzung Schilderung an Schilderung, Gemälde an Gemälde. Oft ist es eine zufällige Jdeenassoeia- tion, die seine Aufmerksamkeit auf irgend einen Gegenstand lenkt. Aber gleich­viel ob der Gegenstand mit Nothwendigkeit in den Zusammenhang des Ganzen sich einfügt, oder ob er wie ein fremdartiger Bestandtheil störend den Gang seiner Darstellung unterbricht: ist er an sich anziehend, so wird der Verfasser nicht leicht der Versuchung widerstehen, sich setner zu bemächtigen und ihn, sei es zu einem poetischen Phantasiestück, sei es zu einer philosophischen oder soeialpolitischen Skizze, sei es zu einem psychologischen Genrebilde episodisch auszuführen. Und gerade in diesen Episoden entfaltet Michelet die ganze Fülle seiner eigenthümlichen Begabung. Leidenschaftlich im Haß, wie in der Liebe, erdrückt er den unglücklichen Gegenstand seiner Abneigung und Feind­schaft bald unter der Wucht eines mächtigen Pathos, bald verwundet er ihn auf den Tod mit den scharfen Pfeilen eines schneidenden und bitteren, fast niemals gemüthlich-humoristischen Witzes und herber Ironie; bald entwirft er ein reizendes Idyll, voll stillen Familienglücks und ländlichen Friedens, oft mit bittern Klagen vermischt, daß die Sitten der Gegenwart nur allzuwenig zu seinen Idealen stimmen; bald tritt der phantasiereiche Dichter, der leiden­schaftliche Politiker hinter dem trefflich geschulten Dialektiker zurück, der. oft von einem paradoxen Einfall angeregt, einen völlig unhaltbaren Gedanken mit schärfster Logik und Aufbietung der verwegensten Sophistik bis in seine