Contribution 
George Grote.
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seinen ganzen merkwürdigen Entwicklungsgang, seinen Charakter und seine Anschauungen irgend welche Kunde verbreitet gewesen wäre.

Harnet Grote's Buch, welches bestimmt ist, diese Lücke auszufüllen, gehört zu jener Mischelasse biographischer Litteratur, die in unserer Zeit in auffälliger Zunahme begriffen ist. Niemand will, wie es scheint, mehr eine wirkliche Biographie schreiben: ein Buch aus einem Guße, nach allen Seiten hin durchgearbeitet, künstlerisch abgerundet, stilistisch ausgefeilt. Ein Bündel Briefe nach ihrem Datum zu ordnen, ein paar Tagebuchblätter zum Abdrucke zu bringen und zwischen diese Briefe und Tagebuchblätter ein wenigver­bindenden Text" zu schieben, das ist unläugbar bequemer; der Leser mag selber zusehen, wie er aus all dem bunten Kram sich die brauchbaren Stücke zu einem einheitlichen Bilde heraussucht. Die Furcht vor der Mühe, die wir so gerne denen vorwerfen, die mit der Hand arbeiten, hat ohne Zweifel auch die Kreise der Geistesarbeit ergriffen; unsere litterarische Production krankt entschieden an der Sucht nach möglichster Mühelosigkeit; ein Beweis dafür ist das Überhandnehmen solcher Conglomerate. Freilich würde es unbillig sein, die Arbeit von Harriet Grote mit jenen bequemen Gemengseln schlechthin auf eine Stufe zu stellen. Die Verfasserin ist eine hochbetagte Frau, der alle Gebildeten es aufrichtig Dank wissen werden, daß sie, der Last ihrer Jahre ungeachtet, sich noch der Mühe unterzog, Nachrichten über das Leben ihres Mannes, die nur sie und wer weiß, wie lange noch? zu geben im Stande ist, zu veröffentlichen. Dennoch kann man den Wunsch nicht unter­drücken, daß ihr Buch nicht durch eine wörtliche Uebersetzung, sondern durch eine geschickte und wesentlich verkürzte Bearbeitung dem deutschen Publikum zugänglich gemacht worden wäre.

Die Verfasserin hat, wie gesagt, nichts weniger als eine Biographie ihres Mannes gegeben. Der ganze Stoff ist nach Art eines Jahrbuches oder einer Chronik eingetheilt. Um die letzten 38 Jahre von Grote's Leben zu schildern, schreibt Harriet 30 Capitel! Man kann also fast sagen: So viel Jahre, so viel Capitel, und wirklich steht über jedem Capitel eine Jahreszahl als Ueberschrift. Ist eine äußerlichere Auffassung eines Lebenslaufes wohl denkbar? In der That ist die Darstellung derart zerstückelt, daß Ereignisse, die hinter einander verzeichnet sind, meist in gar keinem Zusammenhange stehen, dagegen das sachlich Zusammengehörige aus den verschiedensten Capiteln herbeigeholt und manchmal der Zusammenhang geradezu errathen werden muß. Die Darstellung von Grote's parlamentarischer Thätigkeit z. B. bewegt sich in so aphoristischen Andeutungen, daß sie vermuthlich selbst für einen englischen Leser, wenn er nicht eine ausführliche Geschichte des englischen Parlaments zur Seite hat, kaum verständlich sein wird. Hie und da sind wieder Briefe und Tagebuchnotizen eingeschaltet, die mit der Dar-