190
Ueues Küßzeug zum Kampfe gegen die römische
Hierarchie. *)
Rasch und ruhelos eilt das moderne Leben dahin. Ein Uebermaaß von Arbeit wechselt, nach Treitschke's Ausspruch mit einem Uebermaaß von Genuß in jedes Einzelnen Dasein. Und vielleicht ist es ebenso richtig, zu sagen-, ebendarum lebt die übergroße Mehrzahl unserer Zeitgenossen von der Hand in den Mund. Natürlich nicht im materiellen, wirthschaftlichen Sinne des Wortes. Aber unzweifelhaft in geistiger Hinsicht. Die Spanne Zeit, die jeder in Tagen und Wochen wirklich seine freie, eigene nennen kann, ist den Meisten nur mit Handbreite zugemessen; und das karge Maß wird von denen am meisten empfunden, deren Natur am lebhaftesten nach geistiger Stärkung, nach Vertiefung und Verbreiterung des Wissens- und Studienkreises verlangt, um des Lebens höchste Befriedigung zu gewinnen, und deren Alltagspflichten dem höheren Bedürfnisse des Geistes so oft und nachhaltig in den Weg treten. Unserem ganzen Volke ist dasselbe Loos beschieden. Immer gilt von ihm das Wort, daß es das Schwert nicht außer Augen lassen darf, während es den Furchen des Pfluges folgt. Den Wenigsten ist es gegeben, zu bedenken, wie es gestern gewesen, und wie es morgen sein wird, wenn sie die schwere Arbeit des heutigen Tages verrichten.
Nirgend zeigt sich deutlicher, wie rasch wir leben, wie wenig die drängende Zeit uns ruhige Rückschau gestattet, als in dem großen Kampfe des deutschen Reiches gegen die römische Hierarchie, der unsere Tage erfüllt. Wenn das Bewußtsein dessen, was unser Vaterland von dem heut bekämpften Todfeind erfahren und erlitten hat, seit vierhundert Jahren auch nur in einem Schatten noch lebendig wäre in den Massen: nimmermehr konnte heute mit Erfolg die Frage aufgeworfen werden, wer eigentlich den großen Kampf zuerst begonnen hat, Staat oder Kirche? Nimmermehr könnte überhaupt der Gedanke aufkommen, wir Deutsche seien urplötzlich. erst seit der Neubegründung des Deutschen Reiches in diesen Kampf verwickelt worden, und es handle sich dabei um die Feststellung von Grenzlinien zwischen den staatlichen und kirchlichen Gewalten, deren Richtung und Lauf niemals vordem zweifelhaft gewesen.
Es ist der schöne Beruf der deutschen Gelehrsamkeit, ihr vor Allem ist Zeit und Gelegenheit gegeben, uns alle daran zu erinnern, aus welchem Anlaß der große Kulturkampf unsrer Tage heraufgezogen ist, und um welche
") Der Staat und die Bischofswahlen in Deutschland. Mit Aktenstücken von Emil Friedberg. Das neunzehnte Jahrhundert. Zwei Bände. Leipzig, Duncker K Humblot l874.