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Geschichte der Französischen Literatur seit Ludwig XVI. 1774 von Julian Schmidt.
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Sprache, Denkweise betrifft, fo fanden sich unter den Vorkämpfern der eon- servativen Sache die kühnsten Neuerer. Der classischen Regel vermochte der neue Geist sich ebenso wenig unterzuordnen, wie den traditionellen Vorstel­lungen und Ideen, in denen sich die Literatur des vorigen Jahrhunderts, gleichviel welcher Richtung die einzelnen Erscheinungen angehören mochten, be­wegte und mit denen sie operirt hatte.

Wenn es auf dem Gebiete des Staatslebens Napoleon gelungen war, die Ergebnisse der Revolution zu einer Verschärfung der Centralisation und einer Steigerung der Regierungsgewalt zu benutzen, und so das Werk zu vollenden, das die Könige constquent angestrebt ha.tten, ohne es vollständig zum Ziele führen zu können, so war es auf geistigem Gebiete schwerer, die Ideen an bestimmte Formen zu binden. Auf dem Gebiete des Staates fand die Regierung stets in dem Selbsterhaltungstrieb der Nation, die eben wegen ihrer anarchischen Neigungen Nichts so sehr fürchtete, als die Anarchie, einen Verbündeten. Der kurze Freiheitsrausch der ersten Revolutionsjahre hatte die Dictatur des Wohlfahrtsausschusses gezeitigt, der die Nation sich unterwarf, weil ihr der blutigste Despotismus ein geringeres Uebel schien, als der zü­gellose Individualismus, in dem die Regungen des Freiheitstriebes umzu­schlagen waren. Auch der Sturz des Schreckensregiments brachte nicht das Reich der Freiheit, sondern ein Regiment, dessen Bestrebungen nicht minder despotisch waren, als die des Wohlfahrtsausschusses, das sich aber zugleich durch seine Schwäche verächtlich machte, und von neuem die Anarchie entfesselte, bis Napoleon der aus der Revolution hervorgegangenen Gesellschaft die feste und straffe Organisation gab, die sie trotz aller politischen Veränderungen, deren Frankreich in diesem Jahrhunderte unterworfen gewesen ist, im We­sentlichen bis auf den heutigen Tag behalten hat.

Aber auf dem Gebiete der Kunst, Literatur und Wissenschaft sträubte sich der Geist gegen die Fesseln, die der Imperator ihnen anzulegen bemüht war. Na­poleon war aus Geschmack und Politik Anhänger der classischen Richtung; den gewaltigen Einfluß der Literatur wußte er vollkommen zu würdigen, er erkannte sie als eine Macht an, der die Staatsgewalt nicht -neutral gegenüberstehen dürfe, als eine Macht, die, wenn sie in seinem Sinne heilsam wirken sollte, dem Organismus seines Systems eingeordnet werden müsse. Dazu war aber nöthig, daß sie selbst in der Unterordnung unter die akademische Regel ge­halten würde. So begreift es sich, daß Napoleon die Erscheinungen der ro­mantischen Schule, wie weit sie auch untereinander abweichen, durchweg mit Mißtrauen betrachten mußte. Er stand einer Macht gegenüber, die sich nicht reguliren ließ, die ihren eigenen Antrieben folgte, die sich über die akademi­schen Gesetze hinwegsetzte, die wohl gar daran dachte, die Eigenart des fran­zösischen Genius durch Aufnahme fremdartiger Bestandtheile zu entstellen.