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Briefe aus der Kaiserstadt.
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tagung des Landtags jedenfalls bis über den 10. Januar hinaus andauern muß, wird freilich noch das ganz besondere Uebel im Gefolge haben, daß auch dies­mal wieder die Geschäfte der Landtagssession vor dem Zusammentritte des Reichtags nicht zur Erledigung gelangt, beide Körperschaften also gleichzeitig zu tagen gezwungen sein werden. Dies Kreuz werden aber die zwiespältigen Parlamentarier wohl mit der festen Zuversicht tragen dürfen, daß es ihnen jetzt wirklich zum allerletzten Male aufgebürdet wird; denn bekanntlich sollen ja die ordentlichen Sessionen des Reichstags für die Zukunft in den Herbst verlegt werden.

Wenig erfreulich sind leider die Nachrichten, die über die Candidaturen insbesondere der nationalliberalen Partei einlaufen. In den Mittel- und Kleinstaaten hat eine ganze Reihe grade der intelligentesten Männer und zu­verlässigsten Patrioten, die eine Zierde des ersten deutschen Reichstags gewe­sen, die Wiederwahl abgelehnt. Kein Zweifel, daß in ihrem Wahlkreise mei­stens Männer werden aufgestellt werden, welche sich zu gleichen Anschauungen bekennen. Ob diesen aber die Wahl gesichert ist? und ob sie, wenn gewählt, wirklich auch Alle halten, was man von ihnen erwartet? Wahrhaftig, das allgemeine, gleiche und directe Wahlrecht ist in seinen Wirkungen schon an sich unberechenbar genug; wie bedauerlich ist es da, daß der Rücktritt in ihren Wahlkreisen festgewurzelter Männer die Ungewißheit noch vergrößert! Wie, sollte den hervorragenden Patrioten des Südens die vaterländische Begeister­ung in der prosaischen Wirklichkeit der Hauptstadt so bis zum Gefrierpunkt erkaltet sein, daß sie den Ruf der Nation aus bloßer Gleichgültigkeit zurück­wiesen ? Ganz gewiß nicht. Seie man gerecht: seit langer Zeit wird den deutschen Politikern gepredigt, die staatlichen Aufgaben mit Nüchternheit zu erwägen. Nun, eine solche nüchterne Erwägung ist es auch, wenn unsere Reichstags­männer gar Manche wohl nicht mit leichtem Herzen sich gestehen, daß sie die schweren materiellen Opfer, die sie drei Jahre hindurch gebracht, zum zweiten Male nicht übernehmen können. Und damit stehen wir vor dem lei­digen Kapitel der Diätenlosigkeit.

Behüte mich der Himmel, die böse Frage, die den Zorn der Olympischen mehr als einmal wachgerufen, hier bis in ihre tiefsten Tiefen aufzuwühlen! Theoretisch ist in den verschiedenen Sessionen des norddeutschen und des deut­schen Reichstags sehr viel für und eben so viel gegen die Diäten vorgebracht worden. Mich dünkt, unser Reichsparlamentarismus ist bald alt genug, um den Streit aus der praktischen Erfahrung zu entscheiden. Trügt nicht Alles, so werden uns die bevorstehenden Wahlen mehr als genügende Beweise liefern, daß die Diätenlosigkeit eher alles andere bewirkt, als das, was sie in erster Linie bewirken soll: die Fernhaltung der staats- und gesellschaftsfeindlichen Extreme. Die Verminderung der Zahl der aus dem Mittelstande hervorge-