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größten Erstaunens nicht erwehren. Heute ist nicht die Rede von einem Ein- verständniß, geschweige denn von einer Zuziehung der weltlichen Regierungen. Der Papst versammelt seine Untergebenen in Rom, verkündet ihnen seinen unbeschränkten Willen, und das soll ein Concil sein. Kaum der äußere An« stand einer freien Berathung ist gewahrt worden.
Was frommt es an diese Dinge zu erinnern? Es frommt sehr viel. Es ist nicht mehr Katholicismus, wenn der Papst an die Stelle der Kirche tritt. Die Repräsentation der Kirche kann nur gebildet werden durch die Gesammtheit der christlichen Obrigkeiten. Immer haben zur Zeit des mittelalterlichen Katholicismus Staat und Kirche sich bemüht, im Einverständniß zu handeln, unbeschadet des Streites, wessen Recht das ältere und vornehmere sei. Das moderne Papstthum dagegen nimmt die ausgedehntesten Rechte einer christ- lichen Obrigkeit auf den Gebieten aller Staaten in Anspruch und verweigert den staatlichen Obrigkeiten jede Mitwirkung vorher oder nachher zu seinen unfehlbaren Entscheidungen. Wenn das- Papstthum diesen Anspruch durchsetzte, so würde es entweder der Obersouverain aller Fürsten oder es entrisse wenigstens allen Negierungen einen wesentlichen Theil ihrer Souveränität. Das mittelalterliche Papstthum war gewissermaßen das Familienhaupt der europäischen Staatenwelt, das moderne Papstthum stößt die weltlichen Regierungen wie Fremdlinge aus und möchte sie des wirksamsten Theiles ihrer Gewalt, der moralischen Gewalt über Herz und Geist der Staatsbürger, berauben. Kein Staat kann eine solche Institution wie das moderne Papstthum in ihrer vollen Verwirklichung ertragen.
Die deutsche Staatsleitung hat den Kampf gegen diese Institution aufgenommen, indem sie die Hoheit des Staates auf dem deutschen Boden mit allerlei Schutzwehren zu umgeben sucht. Es wäre die Frage, ob der Kampf nicht auf dem internationalen Boden aufzunehmen wäre, ob nicht der europäischen Staatenfamilie die Frage vorzulegen wäre, ob sie den Papst als den alleinigen Repräsentanten des christlichen Glaubens und seiner praktischen Folgerungen anerkennen will. Die europäische Staatenfamilie ist jedenfalls berechtigt, zu verlangen, daß die Glaubensordnungen von einer wahren Repräsentation der Christenheit beschützt und entwickelt werden. Der Papst kann unmöglich die alleinige internationale Behörde der Christenheit in Glaubenssachen sein. Er ist es nie gewesen.
Käme es jemals zu der Anregung dieser Frage unter den europäischen Staaten, so wäre kaum einer derselben in der Lage, die unbeschränkte Souveränität des Papstes in Glaubenssachen und in den damit zusammenhängenden kirchlichen Einrichtungen auf seinem Gebiete anzuerkennen. Wir reden nicht von den sogenannten ketzerischen Regierungen. Aber Oesterreich hat noch kürzlich bei dem Besuch Kaiser Wilhelms in Wien in seinen halb amtlichen