83
kehrt; die Masse der Priester glaubte entweder selbst nicht, was sie zu lehren verbunden war, oder war in barbarischer Unwissenheit Gegenstand höhnischen Spottes und souveräner Verachtung der gebildeten Laien.
Gleichzeitig begannen die Staatsgewalten sich von der Vormundschaft der Kirche zu emancipiren, ja manche Regierung unternahm, von staatswegen ihre Landeskirche zu regieren. Und wenn dagegen die oberste Leitung der Kirche, das Papstthum, das doch formell die Einzelkirchen zusammenfaßte, zu allerlei Finanzkünsten und sittlich bedenklichen Verwaltungs-Experimenten seine Zuflucht nahm, um nur äußerlich seine alte Stellung zu behaupten, so war doch selbst diese finanzielle und administrative Virtuosität Roms ganz dazu angethan, die sittlichen Menschen zu empören. Die bodenlose Unsittlichkeit des Clerus allenthalben in der Kirche ist zu bekannt, als daß wir darüber viel zu sagen brauchten: sicher war der Lebenswandel des einzelnen Geistlichen nicht ein Gegengewicht gegen die eben erörterten Schäden und Gebrechen der Kirche.
An Widerspruch gegen dies Wesen hatte es eigentlich keinen Augenblick gefehlt. Die Waldenser hatten Nachfolger gefunden; in England, in Böhmen wurden Stimmen des Protestes laut gegen die offieielle Kirche. Mystische Tendenzen bauten in kleineren Kreisen sich an: im IS. Jahrhundert wachte manche Reminiscenz älterer, besonders augustinischer Anschauungen an vielen Stellen wieder auf. Aber alle diese oppositionellen Regungen schlugen nicht durch; die vereinzelten religiösen Anfänge blieben Ausnahmen und gingen immer wieder zu Grunde. Die Versuche theilweiser Reformen der Kirche, die man in der ersten Hälfte des IS. Jahrhunderts eine Zeit lang mit Eifer betrieben, hatten nichts geholfen: kurz, die offieielle Kirche ging in ihrer Ent- christlichung noch weiter vorwärts: dem völligen Zusammensturze war man nahe. —
Was ist das innerste Motiv dieses Zustandes? Die Kirche des ausgehenden Mittelalters hatte die Religion verloren. Trotz allen äußeren Machtprunkes, trotz des imponirenden Gebäudes der Dogmatik war ihr das religiöse und sittliche Gefühl entschwunden. Der innerste Kern des kirchlichen Lebens war ertödtet und erstorben. Und somit war das die einzige Möglichkeit einer Rettung, daß die innerliche Religion des menschlichen Herzens wieder erwache, daß eine Neubelebung des religiösen Gefühls wieder eintrete und die offieielle Kirche von Innen heraus ergreife und reformire.
In der That, dies ist am Ende des IS. und Anfang des 16. Jahrhunderts der Fall gewesen. Fast gleichzeitig in allen Theilen Europas erfolgte der neue Aufschwung des religiösen Gefühls in den Menschen. Und wir meinen, die historische Nothwendigkeit dieses Prozesses, die universalhistorische Berechtigung der Reformation ist ganz besonders erkennbar in der Gleich-