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Kriegsbericht.
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Rücksicht auf die Armee höchste Berechtigung. Stellt sich die Rechnung so, daß die Einschließung ohne regelrechten Belagerungskampf zwar längere Zeit dauert, daß aber die Menschenverluste durch Krankheit und Strapazen in der belagernden Armee geringer bleiben, als die voraussichtlichen Verluste eines Angriffs, der in kürzerer Zeit die Thore zu öffnen verheißt, so hat die Un­geduld keine Berechtigung und wir haben Gewehr auf Schulter ruhig zu stehen, bis der Hunger in der Stadt unser furchtbarer Bundesgenosse wird. Diese Abschätzung vermag nur die höchste Armeeleitung mit einiger Genauig­keit vorzunehmen, und deshalb müsfen wir uns bescheiden.

Unterdeß vollzieht sich ein neuer eombinirter Feldzug gegen die Mitte und den Süden Frankreichs, für welche die große Armee des Prinzen Frie­drich Karl als Centrum, die Corps Tresckow und Werder auf beiden Sei­ten der Vogesen als linker, das Corps v. d. Tann an der Loire als rechter Flügel und als Pivot wirken sollen. Es gilt dort die Neubildungen der Franzosen vor ihrer Beendung zu zerstören, mit ihnen die letzte Hoffnung auf Entsatz, welche General Trochu nährt um die Pariser zu verhärten. In der That scheint ein Vorstoß der französischen Loirearmee auf Paris beabsichtigt und die Zeit gekommen, wo einem Angriff auf v. d. Tann oder einer Umgehung desselben begegnet werden muß.

Trotz dieser neuen militärischen Aufgaben nähert sich der Krieg in Frank­reich einem schnellen Ende. Und es ist keine Anmaßung, wenn behauptet wurde, daß in längstens vier Wochen der militärische Widerstand im Felde völlig gebrochen sein wird. Nicht ebenso schnell kann der Friedensvertrag gewonnen werden. Aber auch dafür ist Vorbedingung, daß die französische Nationalvertretung erst einberufen werde, wenn das Gefühl der Niederlage sich über das ganze französische Volk verbreitet hat.

Wir hoffen, daß die nächsten Wochen die Entscheidung über die Gestal­tung des deutschen Staates bringen werden. Der Gedanke, den Reichstag nach Versailles zu berufen, wurde als Frage in die deutsche Presse gesandt, er begegnete mit gutem Grunde fast einmüthigem Befremden. Ein Reichs­tag der Deutschen muß auf deutschem Boden tagen, nicht unter den schützen­den Kanonen unseres Heeres aus fremder Erde. Dagegen wird dem Bundes­rath und Reichstag gut anstehn, dem Bundeskanzler soweit als möglich ent­gegenzukommen, und wenn Straßburg gewählt werden sollte, so würde patrio­tische Empfindung damit wohl einverstanden sein. Es frägt sich nur, ob der stolze politische Gedanke, welcher zur Wahl dieser Stadt einladet, nicht mit zahlreichen praktischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben würde, und ob nicht Karlsruhe, Heidelberg, Darmstadt den Reisenden von Versailles ebenso ge^ legen, allen Theilen bequemer wären.

Aengstlich lauscht die Nation - auf jede Kunde aus den Verhandlungen

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