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Das zweite Kaiserreich im Lichte der französischen Geschichts-
schreibung.
I.
In zwei Jahrzehnten haben wir Deutschen uns gewöhnt, freundnachbarlich neben dem neuen Kaiserreich zu leben, das der Friede zu sein vorgab; wir haben den guten Glauben an die edlen Instinkte Napoleons des III. gern bewahrt, weil die Vernunft der Geschichte es zu fordern schien. Heute reizt er uns mit unerhörter Verblendung zum Kriege. Der deutsche Kumpf- muth, der ihm antwortet, mag ihn mahnen, daß es seine verhängnißvollste That ist, zu der er sich anschickt. Sie fordert dazu auf, an die Natur und Herkunft seiner Herrschaft zu erinnern, und wir werden am gerechtesten sein, wenn wir es an der Hand der neuesten französischen Geschichtsschreibung selber thun. —
Das napoleonische System, wie es zuerst der Oheim durchgeführt, der Neffe von Neuem ins Leben gerufen und in der seinem zähen, bedächtigen, tastenden Charakter entsprechenden Richtung entwickelt hat, beruht wesentlich auf einer demokratischen Gesellschaft, d. h. auf einer Gesellschaft, in der nicht nur alle Standesvorrechte gesetzlich aufgehoben sind (was ja auch in einer von aristokratischen Traditionen beherrschten Gesellschaft der Fall sein kann), sondern in der das Streben nach thatsächlicher Gleichheit der Lebensstellung, nach immerwährender Ausgleichung aller durch Geburt und Besitz bedingter gesellschaftlicher Unterschiede, ein unaufhörliches Herabziehen des Hervorragenden, und dem entsprechend ein leidenschaftliches Drängen der Massen und der Einzelnen nach Oben die beständig wirkende stärkste Triebfeder alles Handelns geworden ist.
Schon die constituirende Versammlung von 1789 stand unter der Herrschaft des Gleichheitstriebes. Ihr Bestreben ging nicht dahin, auf dem Wege der Reform die Willkür des monarchischen Absolutismus zu brechen und (wie Mirabecru es wollte) durch eine starke politische Organisation die Freiheit zu begründen und zu befestigen; sie suchte vielmehr die über jede thatsächliche Bedingtheit sich hinwegsetzenden Gleichheitsideale der französischen Philosophie zu verwirklichen. So begnügte sie sich nicht damit, den Adel seiner Vorrechte zu entkleiden, sie erklärte ihn für abgeschafft. Daß dieses Gleichheitsstreben zur äußersten Concentration aller Macht in den Händen der Staatsgewalt führen mußte, bewies die Schreckensherrschaft des Con- vents, der sich Frankreich nur deshalb einige Jahre hindurch willenlos unterwarf, weil seine Blitze vorzugsweise die höchsten Häupter trafen und alle Hindernisse aus dem Wege räumten, die der Verwirklichung des Gleichheitsprincips entgegenstanden.