Beitrag 
Alphonse de Lamartine.
Seite
183
Einzelbild herunterladen
 

18Z

dem Inhalt sich völlig deckenden Form wiedergeben. Aber eben die Wahr­heit und Energie der Empfindung gibt den Gedichten die allgemeine Be­deutung; sie wirkt in den Lesern die Empfänglichkeit für die Auffassung des Gedichts und bringt die dunkeln und unklaren, in ihm schlummernden Ge­fühle ihm selbst zum Bewußtsein; das Lied ist der Hebel, welches den empfäng­lichen, aber zu selbständiger Production unfähigen Seelen die Gabe der Re- production, d. h. des ästhetischen Genusses mittheilt.

Für diese im deutschen Walde erwachsene Lyrik fehlt es Lamartine so­wohl an Energie und Tiefe der Empfindung wie an concentrirter Kraft der Darstellung. Lamartine ist eine reflectirende Natur. Und je entschiedener er jede metaphysische Speculation abweist, um so leidenschaftlicher strebt sein beweglicher Geist, seine Gefühle zu analysiren und zu beschreiben. Wäh­rend die oben geschilderte Art dichterischer Productivität den poetischen Ge­danken in seiner Unmittelbarkeit in die einfachste, kürzeste und treffendste Form zusammenzieht, ergeht er sich mit Behagen ins Breite; er entlehnt, so entschieden und ausschließlich lyrisch seine Begabung auch ist, doch häufig vom Epiker die Form. Er erzählt, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, seine Empfindungen und Gefühle. Er unterwirft die Gegenstände, die seine Seele anregen, immer einem dem philosophischen Gedankenprocesse analogen Gefühls­processe. Dies Verfahren würde den Leser sehr bald ermüden und mit Ueber- druß erfüllen, wenn er es nicht verstände, durch die vollendete Handhabung aller Darstellungsmittel sein Thema in mannigfaltigster, stets anmuthiger Weise zu variiren, und den Geist, wenn der Gedankeninhalt erschöpft zu sein scheint, durch immer neue, in den früheren Dichtungen weniger plastische als glänzende Bilder und Schilderungen zu fesseln. Er entfaltet eine poeti­sche Rhetorik, die in ähnlicher Weise auf den Leser wirkt, wie das Wort des Redners auf den Hörer, die ihn bald zwingt, seine Aufmerksamkeit auf den Grundgedanken des Gedichtes zu concentriren, ihn bald, wenn er ermüdet ist, durch anmuthige Abschweifungen erheitert und durch den Zauber prachtvoller Verse entzückt und fesselt. Eines der glänzendsten Beispiele seiner poetischen Beredsamkeit finden wir gleich in der zweiten an Lord Byron gerichteten Be­trachtung. Der Dichter ist von Byron's dämonischer Genialität aufs Tiefste ergriffen, es kämpft in ihm die begeisterte Bewunderung mit dem Schauder, den Byron's unheimliche, übermenschliche, gegen alles Bestehende sich aus­lehnende Leidenschaft in seiner weichen Seele erregt. Er vergleicht ihn dem Adler, der sein Horst auf schroffen Klippen am Rande des Abgrundes baut und von zuckenden Gliedern und bluttriefenden Felsen umgeben, seine Wollust in dem Schmerzensschrei seiner Opfer findet und vom Sturm gewiegt in sei. nem freudigen Triumphe einschläft. So sei den Ohren Byron's der Schrei der Verzweiflung das süßeste Concert; das Unheil ist sein Schauspiel,