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Betracht. Verhängnißvoller und folgenreicher kann dagegen die Agitation werden, welche neuerdings in Rußland gegen die freundschaftlichen Beziehungen dieser Macht zu Preußen inscenirt zu werden beginnt. Zu zwei verschiedenen Malen und neuerdings in geflissentlich provocatori- fcher Weise hat die einflußreiche und mit den höchsten Regierungskreisen in Beziehung stehende Moskausche Zeitung die Meinung verbreitet, die russisch-preußische Entente werde von dem Grafen Bismarck dazu ausgebeutet, Frankreichs und Oestreichs Unzufriedenheit mit der 1866 geschaffenen Situation auf Rußland abzuleiten und diese Macht das volle Odium des Ltaws-quo tragen zu lassen. „Es scheint, dahin gekommen zu sein" ruft der Führer der russischen Nationalpartei aus, „daß wir zufrieden sein müssen, wenn die gute Nachbarin, der zu Liebe wir uns in diese peinliche Situation gebracht haben, sür den Fall, daß Rußland in Ungelegenheiten geräth, auch nur neutral bleibt, wie im Jahre 1854. Und das ist nicht einmal Alles! Die Dinge scheinen bereits so zu stehen, daß wir alles Mögliche thun müssen, um uns Preußens Wohlwollen zu erhalten, daß wir ihm zu Liebe auf den Bau einer Eisenbahn nach Libau und die Einführung der russischen Sprache in unsern Ostseeprovinzen verzichten müssen. Ja noch mehr — Deutschland will die Stellung, in welcher wir uns ihm zu Liebe gebracht haben, förmlich ausbeuten; offener denn je ist in der deutschen Presse von den Ostseeprovinzen die Rede und wird die schändliche Intrigue unterstützt, welche seit einiger Zeit in diesem Lande arbeitet." Im weiteren Verlause wird darüber Klage geführt, daß Graf Bismarck, „der doch sonst der Presse den Mund zu stopfen verstehe" dem Treiben der Allg. Zeit., der Kölnischen Zeit., der Ostseezeitung und der Kreuzzeitung ruhig zusehe und diese Blätter nicht verhindere, die deutschen Liv-, Est-, und Kurländer gegen das russische Element zu unterstützen. Zum Schluß wird der Artikel eines andern Moskauer Journals citirt, in welchem deutlich ausgesprochen ist, die preußische Alli- ance habe sür Rußland gar nicht mehr Werth, als jede andere — für Preußen aber hänge „Sein oder Nichtsein" von der russischen Freundschaft ab.
Wir wissen wohl, daß die Anschauungen der russischen Negierung mit denen des Beherrschers der russischen öffentlichen Meinung noch nicht identisch zu sein brauchen, als Symptom der in gewissen Kreisen herrschenden Stimmung verdient diese übermüthige Aeußerung aber dennoch Beachtung, zumal die in derselben erhobenen Ansprüche zu maßlos und brutal sind, um anders als mit gleicher Münze bezahlt werden zu können. Eine preußisch-russische Zeitungspolemik könnte unter den gegebenen Verhältnissen aber schon hinreichen. Oestreichs deutschen Bundesgenossen, die sich in letzter Zeit merkwürdig still gehalten haben, neues Blut in die Adern zu gießen und den betriebsamen Leiter der k. k. Staatsgeschäfte mit neuen Entwürfen und Plänen zu erfüllen. Ist der feste Glaube an das unerschütterliche Zusammenstehen der beiden nordischen Großmächte doch in der That die Voraussetzung gewesen, von welcher alle wiener und pariser Conjecturen über die nächste Zukunft ausgingen. Der bloße Schein einer Lockerung dieser Beziehungen wäre hinreichend, um die Constellation zu verändern.
Während des abgelaufenen Monats ist Oestreich ausschließlich mit semen inneren Angelegenheiten beschäftigt und die Arbeitskraft des Reichsr^ths (de^ an Eugen v. Mühlfeldt eines seiner bekanntesten und streitbarsten Mw glieder, den eifrigsten Gegner des endlich zu Fall gebrachten Concordars plötzlich verloren hat) in außergewöhnlichem Maaße in Anspruch genommen gewesen. Wider Erwarten der geängstigten Börsen und der zah"ettyen Staatsgläubiqer, welche ihr Vertrauen auf Oestreichs sprichwörtliches Mucr