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Politischer Monatsbericht.
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Politischer Monatsbericht.

x Leipzig, den 30. April. Die politische Stimmung der letzten vier Wochen ist der Hauptsache nach von der vorhergegangener Monate wenig verschieden gewesen. Man lebte von der Hand in den Mund, heute von plötzlich aufgetauchten Hoffnungen empor­gehoben, morgen von gleich vaguen Befürchtungen zu Boden gedrückt. Immerwährendes Stimmen und nun beginnt das Concert"! könnte es heißen, wenn nicht gerade in den letzten Tagen die Versammlung zusammen­getreten wäre/welche das entscheidende Wort für die Gestaltung der nächsten Zukunft Deutschlands sprechen soll. Ob und wie dasselbe lauten wird, wissen die berufenen Sprecher freilich am wenigsten. Seit den Ereignissen von 1866 haben die Deutschen sich davon entwöhnt, Conjecturalpolitik in früherer Manier zu treiben und die Zukunft nach bestimmten logischen Formeln und Schlußfolgerungen berechnen zu wollen. Von den Ereignissen überrascht zu werden, ist uns förmlich zur Gewohnheit geworden, der- gewöhnliche Zusam­menhang von Ursachen und Wirkungen hat die Präsumtion gegen sich und wir glauben längst nicht mehr an die Giltigkeit von Fingerzeigen und Symptomen, die uns vor noch wenigen Jahren für unfehlbare Anhalts­punkte der Caleulation gegolten hätten.

Von den Ereignissen des letzten Monats sind am'folgereichsten die Vor­gänge gewesen, welche, an und für sich wesenlos aus trügerischen Schatten künftiger oder doch erwarteter Ereignisse, als Gerüchte ihr Wesen trieben. Tagelang schwebten die europäischen Börsen zufolge der widerspruchsvollen Pariser Sensationsnachrichten und officiösen Artikel über die Nordschleswig- sehe Frage in einer Verlegenheit, die außer Verhältniß stand zu dem Werth des Objects, um welches es sich im schlimmsten Fall hätte handeln können. Wiederum zeigte sich, daß die Gespanntheit der Situation die Reizbarkeit des Capitals und das Mißtrauen der Geschäftswelt zu einer so krankhasten Höhe gesteigert hatte, daß das Fallen einer Stecknadel dazu hinreichte. Schwankungen von weitgreifendster Bedeutung herbeizuführen. Das schlimmste an der Sache ist. daß dieses Spiel jeden Augenblick neu begonnen werden kann, ohne daß ein Kraut gegen dasselbe gewachsen wäre. Wüßten wir nicht, daß die fran­zösischen Börsen von demselben mindestens ebenso schwer betroffen werden, wie diejenigen des übrigen Europa, wir könnten glauben, es sei auf eine absichtliche Ermüdung und Ueberreizung derer abgesehn, die unter allen Um­ständen die ersten sind, welche die Zeche eines europäischen Krieges zu be­zahlen hätten. Daß alle Nachrichten darin übereinstimmen, die nordschles- wigsche Frage sei von den Cabmetten von Wien und Paris zu den Akten Grenzboten II. 18K8. 82