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nehmung hindurch zum Verstand zu gelangen. Den nächsten Wendepunkt bezeichnet das Selbstbewußtsein. Durch mehre Stadien hindurch entwickelt sich dieses zur Vernunft. Noch einen Schritt weiter, und das, reiche Leben des Geistes entfaltet sich vor uns nach dem ganzen Umfang seiner Bewährung in den Interessen der Sittlichkeit und der Bildung, in Kunst und Religion, bis sich ihm endlich das Heiligthum des absoluten Wissens erschließt, als wo er ganz er selbst und-im reinen Element der Wahrheit sei. Allein wenn wir näher zusehn, so tritt hinter diesem transcendental-psychologischen Schema ein ganz anderes Moment hervor; die Phänomenologie wird zum Palimpsest: über und zwischen dem ersten Text entdecken wir einen zweiten. Eine Strecke wol können wir uns in das Werk hineinlesen, ohne etwas AndreS als eine kritische Analyse der natürlich nothwendigen, immer und überall wiederkehrenden Standpunkte des Bewußtseins zu finden. Wir haben jedoch kaum die Schwelle des „Selbstbewußtseins" überschritten, so begegnen wir auf einmal einer Charakteristik des im Despotismus der orientalischen Völker sich maiufestirenden Bewußtseins und unmittelbar darnach einer Charakteristik des Stoicismus und des Skepticismus. Die Spuren geschichtlicher Schilderei werden demnächst wieder unsicherer und verwischter. ES scheint, daß „das unglückliche Bewußtsein", welches sich ans dem skeptischen entwickeln soll, eine schlechthin allgemeine Bewnßtseinsform sei, allein je mehr wir unser Auge an die dunkeln Umrisse des entworfenen BildeS -gewöhnen, desto unzweifelhafter wird es uns: wir haben in Wahrheit eine Charakteristik der kirchlichen und mönchischen Ethik des mittelalterlichen Christenthums vor uns. Und ebenso >m weitern Verlauf der Phänomenologie. Jetzt steht vor uns der sittliche Geist des attischen Bürgcrthums, und aus dem Halbbunkel der abstracten Charakteristik desselben treten, als Schatten zwar, aber als deutlich erkennbare Schatten, die Gestalten der alttragischen Bühne, Kreon uud Hämon, Anti- gone und Jsmene hervor; wir haben, den Eindruck von diesen Stellen, wie wenn jemand allerlei Fragmente von Statuen und Säulentrümmern mit neuem Material durch einen leichten Ueberwurf von Farbe oder Politur zu einer Wand verbunden hätte. Jetzt wieder ist es der Staats- und Nechtsgeist der Römer, weiterhin die Zustände des spätern römischen Imperialismus, die unS w ähnlicher Weise vorgeführt werden. Zwischendurch und in der Folge sehen wir uns in die Lebens- und Bildungstcndenzen der modernen Welt versetzt. Wir befinden uns augenscheinlich in dem monarchisch absolutistischen Frankreich; die geistreiche Frivolität wird uns geschildert, die in den aristokratischen Kreisen der damaligen französischen Gesellschaft ihren Sitz hatte und durch die literarische Thätigkeit der Encyklopädisten Form und Ausbreitung gewann; die nebelhaften Züge verdichten sich; indem wir uns noch durch das An sich und Für sich hindurchtappcn, stoßen wir auf einmal auf eine wohlbekannte Figur Grenzbotcn IV. > 1867. 48