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Ein Voltairianer des 19. Jahrhunderts.
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originell hielt er aber nur, was der Regel widersprach. Daher forcirte er die Paradorien seines Lebens wie seiner Ideen, und war dann am wenigsten na­türlich, wenn er am eifrigsten der Natur nachjagte. Sei» Haß gegen den Cant ging bis zum Fanatismus. Er verstand darunter alles, was entfernt an eine sittliche Idee erinnerte. Ein jeder, derben natürlichen Egoismus des Einzelnen bekämpfte, war ihm ein Tartüffe. Neberströmend von Esprit, fehlte ihm doch das innere Behagen der englischen Humoristen. Auch wenn er scherzt, ist er nicht heiter, und sein Witz ermüdet, weil man merkt, daß er sich stets mit dem Eindruck beschäftigt, den er auf andere macht. In dem Gefühl, daß die Welt von Tartuffes erfüllt sei, verlachte er die Popularität, und gegen seine eignen Neigungen mißtrauisch, bekämpfte er auch in den kleinsten Aeu­ßerungen die Affectation. Aus Haß gegen die Heuchelei trieb er mit beson­derer Vorliebe die Mathematik und ließ keine andere Beweisführung zu, als die geometrische. In allen Dingen skeptisch, trieb er den Skepticismus mit einer Art Leidenschaft. Er glaubte nicht an Gott, aber ex haßte ihn doch ge­wissermaßen, weil er die Welt so verkehrt gemacht habe. 0<z qui ex<uis«z l)ieu, sagt er, e'esl, (Ml li'vxisle pas. In der positiven Religion sah er nichts alS eine Verschwörung schlauer Priester gegen das wahre Glück der Volker, wer dem Menschen eine andere Pflicht einreden wolle, als die höchste, einzige, für sein Glück zu sorgen, sei ein Tartüffe; das Glück aber liege in der sinn­lichen Befriedigung. Das Leben ist kurz, darauf folgt daS Nichts; das Glück schnell und entschlossen zu ergreifen, je nach dem individuelle« Temperament, ist das einzige Gesetz, das der Mensch sich auferlegen darf. Auferwachsen in den Theorien von Helvetius, fest überzeugt, daß die Selbstsucht die Trieb­feder aller menschlichen Handlungen sei, fand er ein unheimliches Vergnügen darin, große und schöne Handlungen zu analystren und sie in ihrer inueru Hohlheit nachzuweisen. Er hatte eine beständige Furcht, durch sein Gefühl getäuscht und zu irgend einem falschen Enthusiasmus hingerissen zu werden. Spätere Moralschriftsteller haben sich über diese Herzlosigkeit entsetzt, im Grunde versteckte sich aber eine geheime Sentimentalität dahinter. Zwei Jahre vor seinem Tode schrieb er: IVIa 8snsibilll.L <Z8l ckevsuu« trop vive; aui ns kalt qu'ekkleurer leg aulrvs n,<z blesse jusou'au san^. 'l'el j'^tuls vn 1799, tsl je suis encore on 18iOi mais j'ai appris a caener Wut cela sous cle l'i- ronie impsieeplible au vulAaire, Ein ander Mal heißt es: .Iv lremble loujours cls n'avoir verit, ciu'un soupir, yuand je erols avoir iwtv une veritv. Das entschuldigt ihn keineswegs, denn seine Husarenmoral wirkt verführerisch auf die Eitelkeit junger Leute, wie sie auch aus der Eitelkeit hervorging. Es schmeichelte ihm, ein zweiter Larvchefoucauld, ein zweiter Lord Chesterfteld, ein zweiter Macchiavell zu sein. Die Sache wurde darum nicht besser, weil er nur eine Rolle spielte. Nur war er in seinem Cynismus kein Falstaff. Seine