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sten Art, Zeitungen in jeder halbwegs namhaften Stadt dafür, daß jedermann an den öffentlichen Dingen wenigstens passiven Antheil nehme. Auf hundert Gleich- giltige kommt denn doch immer ein eifriger und muthigcr Geist. Daher wäre es freilich weise gewesen, wenn die ständischen Führer den Verordnungen znm Bnndes- preßgesetz und Buudcsvereinsgesetz mindestens dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet hätten wie den Vorlagen zur Umgestaltung der ersten Kammer; aber daran ist nicht zu denken, daß mit der einen jener Verordnungen dem Vereinswesen, mit der andern der Zeitungspresse nun sogleich das Lebenslicht ansgeblasen worden wäre. Sie mäßigen beide ihren Ton gegen ^ die verfassungswidrigen Schritte des Ministeriums, nnd enthalten sich vielleicht am sichersten gänzlich der Bearbeitung von Gebieten, aus denen mehr Gift als gesunde Frucht geerntet wird; allein ihr Umkreis ist hente nicht mehr so eng abgesteckt, daß sie anßer den brennenden Fragen des Verfassuugslebens nichts mehr zu besprechen fänden. Grade den andern Feldern der Oeffentlichkeit, der socialen und ökonomischen Entwicklung aller Zustände ist heutzutage das volle Gesicht des Volksgcistcs zugewendet, und auf ihnen liegen daher auch die Lorbeeren dessen, der hente in Zeitungen schreiben nnd in gemeinnützigen Vereinen sprechen will. Das ist kein Unglück, sondern eine nothwendige Reaction gegen die früher vorherrschende einseitige Uebertreibung des constitntionellen Wesens. Finanzen und ständische Vertretung sind wichtige Stoffe für den Antheil eines politisch mündigen Volks; aber weder die einzigen, noch die zu jeder Zeit vorwiegenden. Nachdem vom Mittelpunkt, vom Staat aus die kleineren Kreise der Gemeinden uud der Provinzen erst einmal zn selbstständigcm Leben erwärmt worden sind, ist es ihnen nicht zu verdenken, daß sie im abstracten Leben des Staats nicht mehr völlig aufgehen wolle». Sie empfinden nachgrabe, daß auch in d.en gesellschaftlichen Bedürfnissen des Menschen eine natürliche Reihenfolge besteht, die man nicht ungestraft überspringt. Sich um die Angelegenheiten des Staats eher und stärker zu bekümmern als um die der eignen Gemeinde ist vielleicht eines Philosophen würdig, aber nicht eines einfachen Bürgers.
Wir ziehen aus diesen Betrachtungen den tröstlichen Schluß, daß die ver- sassungsfeindlichcn Mächte in Hannover noch nicht gesiegt haben werden, wenn der Widerstand der Stände gewaltsam beseitigt ist, sondern daß der Kampf dann erst recht aus zahllosen zerstreuten Punkten von neuem anbrechen, und endlich in der Befreiung aller Lebenssphären von dem überwältigenden und verödenden Despotismus der Staatsgewalt ausgehen wird. Schon rüsten sich allerorts die Freiwilligen, die in diesem friedlichen, aber an Spannung wie an Wechselfällen und an Triumphen reichen Kriege den großen Massen der Bevölkerung tiraillirend voranzichen werden, die Pioniere des Fortschritts in der Tagespresse und in den Vereinen aller Art. Wir wünschen ihnen auf ihrem langen Marsch die reichliche Gunst von Wind und Sonne.
Pariser Brief. Der Zweikampf zwischen Madame Ristori uud Fräulein Rachcl dauert fort, und seit einigen Tagen zerfällt Paris in eine Reihe von langen Queues. — Man macht überall Queue, bei der Rachcl, bei Madame Ristori und vor den Zeichnuugsanstaltcn für das neue Anlehen. Das Kunstintercsse und die Kunst, Interessen ans nichts zu ziehen, werden beide mit großer Lebhaftigkeit gepflogen. Grenzboten. III. -I8öö. 2S