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Der Aufbau : Bürger und Stadt
Entstehung
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Der »verdrehte« Kirchturm von Stolzenau

(aus: Die Weser 11/67)

In den Ferien hatte meine Großmutter wegen allzu loser Streiche hin und wieder Anlaß, mich zu schelten. Sie sagte dann unter anderem:Du bis' so verdreiht as de Karken in Stolzenau."

Es hat mich in späteren Jahren nicht ruhen lassen, doch einmal festzustellen, ob der Kirchturm in Stolzenau tatsäch­lichverdreht" sei. Als ich ihn dann schließlich zu Gesicht bekam, war ich doch sehr betroffen, für wieverdreiht" meine Großmutter mich damals gehalten hatte. Natürlich wollte ich wissen, wie Stolzenau zu diesem be­sonderen Kirchturm gekommen war. Ich fragte den Klabau­termann und erfuhr folgendes:

Vor vielen Jahren hatten sich die Stolzenauer eine Kirche mit einem schönen, schlanken Turm bauen lassen, und als Abschluß setzten sie oben auf den Kirchturm einen großen, goldenen Wetterhahn.

Recht bald hatten es sich die Stolzenauer angewöhnt, des Morgens hinauf zum Wetterhahn zu blicken. Hatte er sei­nen Kopf nach Süden gerichtet, so konnten sie mit ziem­licher Sicherheit gutes Wetter erwarten. Drehte er sich aber nach Westen, so wai ihnen Regen sicher. Sah der Hahn nach Osten, so erwarteten sie das, was wir heute als veränderlich" bezeichnen. Hatte er jedoch den Kopf nach Norden, nach Bremen hin, gerichtet, so zogen sie ein fin­steres Gesicht, denn von dort war noch nie etwas Gutes gekommen.

So ging es viele Jahre, und sie waren mit ihrem Wetter­hahn recht zufrieden. Eines Morgens jedoch, als sie wie­der hinaufblickten zu ihrem goldenen Wetterhahn, da hatte dieser den Kopf nach Süden gedreht, und dabei stürmte und regnete es aus Nordwest, daß man keinen Hund hinaus­jagen mochte. Nun, so dachten sie, die Sache wird sich schon geben; aber am Abend blickte der Hahn immer noch nach Süden. Auch am nächsten Tage und, sooft der Wind auch umsprang: Der Hahn regte sich nicht mehr; er war einfach festgerostet

Nun war guter Rat teuer. Die Stolzenauer liefen zu ihrem Bürgermeister und bedeuteten ihm, er habe dafür zu sor­gen, daß der Hahn repariert werde. Das war leichter gesagt als getan, denn der einzige Dachdecker in Stolzenau war alt und dick, und die anderen Handwerker im Orte zeigten wenig Neigung, sich auf das steile Turmdach zu wagen. Schließlich setzte der Bürgermeister einen Preis aus, der demjenigen gehören sollte, der den Hahn wieder zum Dre­hen bringe.

Es meldeten sich verwegene Burschen aus der Umgegend. Sie stiegen alle recht kühn die Kirchentreppe hinauf, an den Glocken vorbei; aber jedesmal, wenn solch ein Anwär­ter auf den ausgesetzten Preis dann aus der Dachluke stei­gen sollte und dabei einen Blick hinabwarf auf die kleinen Menschen, Tiere und Häuser, die er dort, tief unten, sah, so verließ ihn der Mut, und er ließ Preis Preis und Wetter­hahn Wetterhahn sein. So ging das viele Jahre. Zum Ärger hatten die Stolzenauer auch noch den Spott der Leute aus Schlüsselburg, Leese und Liebenau zu ertragen, die den Stolzenauern bei jeder Gelegenheit vorhielten, die Be­wohner Stolzenaus müßten doch ausgemachte Dummköple sein, wenn der höchste Stolzenauer nicht einmal in der Lage sei, die Windrichtung anzugeben. Wer in jener Zeit Lust zu einer handfesten Prügelei verspürte, brauchte nur einen Stolzenauer nach einer der vier Himmelsrichtungen zu fra­gen.

In seiner Not wandte sich der Bürgermeister an einen Riesen namens Milsis, der einige Jahre zuvor aus Lettland gekom­men war und sich im Weseigebirge niedergel?ssen hatte. Dieser Riese war ein gutmütiger Keil, der erst bei den

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Bauern höflich anklopfte, bevor er ihnen ein Stück Vieh wegnahm, um es aufzufressen. Mit diesem Riesen wurde der Bürgermeister handelseinig, und eines schönen Tages kam der Riese tatsächlich herbeigestapft, daß die Erde er­zitterte und die Stolzenauer sich in ihren Häusern verkro­chen. Er trat vorsichtig zwischen die Häuser und packte den Hahn, um ihn loszudrehen. Jedoch, der Hahn saß zu fest. Der Riese wurde zornig, und, da er mehr Kraft als Verstand hatte, drehte er nun so heftig, daß der Kirchturm die Form eines Korkenziehers annahm.

Der Bürgermeister stürzte aus dem Hause und schrie an dem langen Riesen empor, er solle doch aufhören und lie­ber den Hahn fest lassen, bevor er die ganze Kirche abdrehe. Der Riese war einsichtig, verzichtete auf seinen Lohn und machte sich kopfschüttelnd davon. Nun schaute der Hahn nicht mehr nach Süden, sondern nach Norden, denn so weit hatte der Riese den Kirchturm herumgedreht. Was die Stol­zenauer nun an Spott und Hohn zu erdulden hatten wegen ihres Wetterhahnes, den sie, extra der Bremer wegen, hat­ten herumdrehen lassen wie die lieben Schlüsselburger sagten, war einfach nicht mehr zu ertragen. Sie brachen jeglichen Verkehr mit der Umwelt ab und schössen auf jeden, der sich auf dorn Landwege ihrem Orte näherte. Die Flößer und die Schiffer, welche die Weser befuhren, waren die einzigen Fremden, die in jenen Tagen von den Stolzenauern eingelassen wurden. Man muß sagen: zum Glück der Stolzenauer, denn unter den Schiffen war ein junger Matrose, der auf Segelschiffen mit hohen Masten ge­fahren und es daher gewöhnt war, sich in großen Höhen zu bewegen. Als dieser junge Mann von dem Preis hörte, der für das Lösen des Wetterhahnes ausgesetzt worden war, beschloß er, den Stolzenauein zu helfen und iür sich den Preis zu erlangen.

Er ging nicht mit leeren Händen wie die anderen auf den Turm hinauf, sondern er nahm ein langes Tau und einen Topf Tran mit zur Dachluke. Das Tau warf er geschickt über den Wetterhahn hinweg, so daß das andere Ende wieder zu ihm herabfiel. Mit Hilfe des Taues kletterte er nun an dem verdrehten Kirchturme empor bis zum Wetterhahn. Den schmierte er gründlich mit dem Tran, füllte das Rohr, in dem der Hahn sich einst gedreht hatte, voll Fett und versuchte dann, den Hahn zu drehen. Aber der saß immer noch fest. So stieg der junge Mal rose wieder zur Dachluke hinab, löste das Tau und, als er glücklich unten auf dem Kirch­platze angekommen war, verlangte er von dem Büigermei- ster seinen Lohn. Der aber weigerte sich, denn ein Blick

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