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8. ^!uli 1934
Leüsgs 6sr 82.
Barbara schwimmt durch den See
Dovelle von Davl Dils Dicolaus
Wie ein Gespenst ragte der Sprungturm der Badeanstalt über uns in den Himmel. Auf dem obersten Sprungbrett stand Barbara. Ihre Umrisse offenbarten sich klar und jung vor der Bläue des Himmels. Dann schoß sie wie ein lebender Pfeil in die Tiefe.
Wir hielten den Atem an, sahen ihren schönen, glatten Aufschlag auf die Fläche des Sees; sie tauchte rasch wieder auf und winkte uns zu.
Heinz, der neben mir im Grase gelegen hatte, stand auf. „Sie hat bestimmt keine Ahnung, wie wer q Muskel zum Leben gehört und wieviel Herz," sagte er seufzend.
Dann lief er rasch ins Wasser und schwamm mit Barbara um die Wette im See. Barbara entkam ihm, denn sie schwamm besser.
„Sieh' mal" — sagte Heinz am nächsten Tage zu mir —, „wir wären uns einig, Barbara und ich. Aber eins beunruhigt mich. Ich kenne meine Wünsche: ich möchte heiraten und Kinder haben. Aber ich kenne Barbaras innerste Wünsche nicht. Sie sagt zu allem ja; aber es ist ohne Zwang von innen. Die Wünsche, die sie angeblich mit mir teilt, sind für sie wie eine Uebung, — wie ein Sport. Diese Frauen mit den trainierten Körpern find alle so voller Hoffahrt. Und es ist so schwer, in ihnen das Herz gegen den Muskel zu mobilisieren!"
„Weißt du" — erwiderte ich —, du wirst es schaffen. Eben, weil die Wünsche des Herzens stärker sind als die Hoffahrt der Muskeln!"
Als wir danach zu dritt im Wasser waren, begann Heinz eine kleine Rauferei mit Barbara. Er tauchte sie ein paarmal unter, so daßsieWasser schluckte. Dann entkam sie ins freie Wasser draußen.
Armer Kerl, dachte ich, so wird es nicht gehen! Denn Heinz war sehr verliebt in Barbara.
Da n kam ein wunderbarer Abend. Wir saßen auf der einsamen Terrasse am See. Groß und schwer hing der Mond über dem anderen, fernen Ufer.
Wehmütig spielte das Grammophon. Heinz tanzte mit Barbara. Er warb um sie. Barbara fühlte sich wohl in dieser Werbung. Aber man wußte nicht, war es im Bann der schwermütigen Lieder, war es im Bann des aufgehenden Mondes oder war es im Bann des Mannes Heinz, der verliebt war.
Ich wußte es: dies wird die Stunde der Entscheidung!
„Vierzehn Stunden Arbeit am Tag," sagte Heinz langsam, „und dich und einen Jungen und
^Vorkbnnännsstellung Löttvberstrsüs
Ois KusstsUuuZ äsr Ltaatliobsn Oorrsllauwanu- kslctur in äsr Oättobsrstralls, über äis rvir an- läüliob äss Noräiscbsv Tdivg berioktstsv, übt immer noob groüs KnriebuuAsürLkt aus. Ois prsuüisobs Lobliobtbsit äsr Oorrsllaubiläuisss, äis in LoköpkunFSn von Raueb unä Lobsäov vertreten sinä, bat ibrs OortsstrunZ in äsr neuen Luvst gskuväsv.
noch einen Jungen!" Seine Stirn war blaß. Ueber Barbaras Mädchengesicht kroch ein Schatten der Ungewißheit und der Angst. Sie fand sich nicht zurecht in der ewigen Legende, mit der jede Liebe beginnt und die wie eine Verheißung und Selig- preisung über der Schwere des Kaprpfes steht.
Die Tanzenden hörten auf. Das Schweigen auf der Terrasse war so, daß man glaubte den Stein atmen zu hören.
Dann warf Barbara den Kopf zurück und lief über die Terrasse hinunter an den See. Wir liefen ihr nach. Sie verschwand in einer der Kabinen, die wir dort zum Baden benutzten. Ehe wir recht wußten, was los war, sprang sie an uns vorbei ins Wasser.
„Kommt doch, ihr Schafsköpfe," rief sie, „baden, schwimmen, alles wegspülen lassen!"
Wir gingen etwas benommen in unsere Kabinen und zogen uns aus. Barbara plätscherte draußen. Wir sprangen zu ihr ins Wasser. Barbara schwamm vor uns. Mit mächtigen Schwimm- stößen ruderte sie dem Mond entgegen.
„Heute schaffen wir es," sagte sie, „heute durchqueren wir den See!"
„Du bist wahnsinnig!" erwiderte Heinz. Wir hatten es schon ein paarmal versucht, waren aber jedesmal bald hinter der Boje, die zur Orientierung für die kleinen Dampfer ziemlich weit draußen ausgelegt war, umgekehrt. Denn schon bis dorthin zu schwimmen, war eine große Anstrengung. Und dabei war es noch lange nicht die halbe Strecke über den See. Es war in der Tat sehr gewagt, in der Nacht zu versuchen, was schon bei Tage unmöglich erschienen war.
„Bleibt zurück, meinetwegen, ich tu's," sagte Barbara. Wir schwammen zu dritt in dem nächtlichen See. Vor uns glitzerte die Bahn des Mondlichts über das Wasser. Hinter uns war der See schwarz.
Nach einer halben Stunde sagte Heinz: „Barbara, bitte umkehren!" Er sagte es scharf. „Ich denke nicht dran," erwiderte das Mädchen.
Wieder schwammen wir schweigend. Wie ein dunkles Ungeheuer schaukelte die Boje plötzlich vor uns auf dem Wasser. Barbara hatte sie als erste erreicht. Wir hielten uns alle drei an der Boje fest.
„Jetzt fünf Minuten ausruhen und dann zurück," sagte Heinz. Seine Stimme klang unsicher.
„Ausgeschlossen," sagte Barbara ernst, „ich schwimme weiter, quer durch den See bis ans andere Ufer!"
„Quer durch den See, aber abwärts, quer bis ins Jenseits!" entgegnete Heinz zaghaft. „Wir können es nicht schaffen, Barbara," bat er lächelnd.
„Ich schwimme dennoch weiter," sagte sie.
Die Boje schaukelte, unsere Gesichter tauchten ins Wasser. Es sah aus, als spüle das silbrige Wasser für immer das Lächeln fort, das im Antlitz von Heinz hing.
„Du schwimmst sofort zurück," wandte sich Heinz an mich, „und alarmierst ein Boot, ich bleibe bei Barbara!"
„Wird keinen Zweck haben," entgegnete sie. Dann stieß sie sich ab von der Boje und schwamm weiter in den nächtlichen See hinaus. Wir folgten ihr. Von Umkehr war keine Rede mehr.
Ich beobachtete meine Schwimmtechnik genau. Alles kommt auf die Nerven an, darauf, daß man die Nerven behält! Die meisten ertrinken aus Angst. So überlegte ich.
Auch auf das Schwimmen der beiden anderen horchte ich. Barbaras Atmung war nicht mehr ruhig. Sie war offenbar nervös.
Wir schwammen nun alle drei eng beieinander mitten auf dem großen See, schwammen langsam, schwammen auf Tod und Leben.
Es war eigentlich ziemlich aussichtslos, das andere Ufer zu erreichen. Ich dachte es! Heinz dachte es! Barbara wußte schon ganz bestimmt, daß es unmöglich ist. Sie hat es später gestanden. Wir sagten nichts; sie sagte nichts. Umkehren war sinnlos. Denn zurück war der Weg noch länger als vorwärts.
Es war kein Irrtum möglich: wir ermatteten; wir kamen nur noch sehr langsam vorwärts. Vielleicht hätten wir nun mit Vorwürfen begonnen, wenn wir nicht alle Kraft auf das Schwimmen konzentriert hätten. Wir legten Ruhepausen ein, wo wir uns auf dem Rücken treiben ließen.
Dann schwammen wir wieder. Auf einmal fing Barbara an zu keuchen. Sie schlug ein paarmal
mit den Armen durch die Luft; dann sackte sie ab.
Heinz war mit einem Ruck bei ihr, packte sie, zerrte sie hoch und nahm sie in den Griff für Rettungsschwimmen. Heinz und ich waren selbst matt gewesen. Jetzt, — Auge in Auge mit der Gefahr — fiel die Müdigkeit von uns ab. „Erst nimmst du sie eine Weile, dann ich," — sagte ich.
Dann schwammen wir weiter quer über den See. Der Mond stand jetzt schräg neben uns. Das Ufer, auf das wir zuhielten, leuchtete blaß.
Wir wechselten uns ab. Jeder nahm Barbara, die ohnmächtig war, ein Stück mit. Es war eigentlich undenkbar, daß wir noch soviel Kraft hatten. Aber wir hatten sie. Heinz schwamm wie ein junger Gott. Das war, weil die Stunde der Entscheidung jetzt im Zenith stand, weil es jetzt galt, Barbara heimzubringen als sein Geschöpf oder unterzugehen. Seine sichere Art zu schwimmen. beruhigte mich. Seine Kraft übertrug sich auf mich. Das rettete uns.
So schleppten wir, zwei einsame Kameraden, in sternheller Nacht das Mädchen Barbara über die
Tiefe des Sees. Wir hatten der Versuchung, die in Barbara war, nachgegeben; aber wir bändigten Versuchung und Untergang.
Als wir ans Ufer taumelten, betteten wir Barbara auf einen Haufen Schilf. Wir machten Atemübungen mit ihr. Als sie die Augen aufschlug und Heinz sie streichelte, vollbrachte sie ein so demütiges Lächeln, daß ich erschüttert war.
Im nächsten Dorf klopften wir einen Fuhrmann aus dem Schlaf. Er fuhr uns auf einem Erntewagen um den See zurück zu dem Haus, von dem wir losgeschwommen waren.
Wir lagen in Decken gehüllt auf dem Wagen und sahen in den Sternenhimmel. Barbara streute ein zufriedenes Lächeln über alle Dinge, an denen wir vorbeikamen und die sie doch nun ihm verdankte, — dem Mann Heinz.
So ging Barbara ein in die Welt, die seine Welt war und die er für sie auf Tod und Leben wagte, damit sie ihrer teilhaftig würde.
gen waren geschlossen. Einen Augenblick stand er in der Mitte der Küche und griff sich mit der rechten Hand an die Hemdbrust. Seine Finger drangen in das Leinen ein, bis es knirschend zu reißen begann. Das brachte ihn wieder zu sich. Gleich darauf hämmerte er mit der Faust an der Tür des Nachbarhäuschens. Die Nachbarin war gleich bereit, zu helfen. Denn alle liebten Marthe. Er stürmte weiter. Unterwegs überlegte er fieber-
Jettgeüiätte von Hans MüUerlM gorst lvessel
Mörderische Rachgier schoß ihn nieder Und es schloß für ewig sich sei« Mund,
Aber täglich kommt er zu uns wieder Und gibt uns von seinem Kampfgeist kund.
Und wir ziehe» mit ihm durch die Straße»- Mann an Man« und fingen „Fahne hoch!" Unser Marschtritt dröhnt dnrch alle Gasse», Durch die auch sein Sturmbann damals zog.
Hitlerbanner weh'» in jedem Orte.
Wüßte er, daß er im Tod gesiegt!
Offen ist uns jetzt des Reiches Pforte Und wir seh'», daß auf ihr Sonne liegt.
Immer werden seiner wir gedenken,
Nicht umsonst sank er für uns hinab Und wir woll'» die Stirne» vor ihm senken, Lorbeerkränze legen auf sein Grab.
Wollen ihn in unser'« wache» Herzen Wahr'» als unser reinstes Heiligtum,
Als Altar mit ewig brenu'nde» Kerzen:
Uns kommt Andacht zu, ihm aber Ruhm.
hast alles. Geld. Er würde es schaffen, morgen schon! Arbeit, er hatte welche in Aussicht — brauchte nur zuzugreifen. Als er dem Arzt gegenüberstand, war er ruhig und gefaßt.
„Sie müßen gleich mitkommen, Herr, es eilt sehr. Es ist meine Frau!"
Der Arzt war jung und fragte nicht viel. Die Nachbarin hatte er fortgeschickt. Die Kranke atmete schwer und unruhig. Und während er so dasaß, kreiste sein Leben um ihn, wie ein phantastisches Schauspiel. Er sah sich selbst, getrieben von fremder Verbissenheit, gegen sich selbst wütend und gegen die Frau, die er — erst jetzt empfand er es — mehr als alles liebte. Ein böser Traum. Eine Krankheit. Weg damit! Und mit einer Handbewegung begrub er sein bisheriges Leben. Später lief er hinaus, um seinen Kopf ein wenig zu kühlen. Als er wiederkam, hatte er ein paar grüne Birkenzweige in der Hand. Er stellte sie in ein Glas in die Nähe der Kranken. Gegen Morgen, als er die Umschläge zum letzten Mal wechselte, begann sie ruhiger zu atmen und schlug einmal kurz die Augen auf. Er flößte ihr ein paar Löffel Milch ein. Sie lächelte schwach und sagte unbegreiflicherweise: „Mutter."
Der Arzt kam täglich. Am vierten Tag war sie fieberfrei. Er erwartete, müde und schlaflos an ihrem Bett sitzend, mit einigem Bangen ihr Erwachen. Er starrte die Birkenzweige an, die schön beinahe verwelkt waren. Sie brachten ihn auf den Gedanken, Blumen zu holen, den er sofort ausführte. Er bat die Nachbarin darum und erhielt einen ganzen Strauß. Er legte die Blumen auf ihre Decke, sie sollte sie gleich sehen, wenn sie die Augen aufschlug. So wartete er. Und in diesem Warten sank sein Kopf nach vorn auf den Bettrand und schlief ein. Er schlief und träumte. Einsam irrte er durch die große Stadt, die voll von Lichtern und gleichgültigen fremden Menschen war und suchte nach Marthe. Aber er konnte sie nicht finden. Und er hatte sie verloren aus eigener Schuld, das empfand er ganz gewiß. Einmal schrie er laut auf: „Marthe!" Und da erblickte er sie, während er sich die Augen rieb. Ihr Kopf lag zwischen Kissen, ihr Haar war gelöst und ihr Gesicht bleich. Aber dieses bleiche Gesicht lächelte ihm zu in großer Güte. Er tastete nach ihrer dünnen, kleinen Hand, die so schwach war und so viel vermocht hatte. Wie ihre Augen leuchteten!
„Ich bin bei dir, Marthe", sagte er schwerfällig.
»Ja", sagte Marthe, „ich wußte, daß du gut bist."
Marthe — eine Krau
Don Tarl von Tlernent
Marthe steht in der Tür. Im Viereck des kleinen Vorgartens tanzt Staub und der Sturm rüttelt die kleine Birke vor dem Haus. Sie ist schon grün und ihr schwacher Stamm windet sich unter den Schlägen der Luft. Einmal, vor langer, langer Zeit, hatte er die kleine Birke gebracht, selbst das Loch in den sandigen Boden gegraben, die Wurzeln behutsam versenkt und die Erde wieder festgestampft rings um das Stämm- chen. Seine Augen, die ernst und klar unter den geraden Brauen, die an der Nasenwurzel verwachsen waren, leuchteten, ließen den Baum minutenlang nicht los.
„Wollen sehen, wie sie wächst, die kleine Birke."
Nun, sie hatte Wurzel geschlagen und grünte. Zwei Sommer waren darüber vergangen und zwei lange, lange Winter.
Niemand kam. Niemand sagte: Marthe. Niemand trat ein, sich an den ärmlichen Tisch zu setzen, der wenig zu bieten hatte, den aber kleine Birkenzweige schmückten. Niemand lächelte in Marthes Gesicht.
Erst nach Mitternacht kamen seine schweren, ungewissen Schritte über den Kies. Die Tür flog in den Angeln, die Treppe knarrte zu seiner Stube hinauf. Etwas polterte noch minutenlang. Dann war Schweigen. Noch saß sie am Tisch, das ärmliche Hauskleid sauber geplättet, das Haar hübsch gekämmt. Zwei Teller standen auf dem weißen Tischtuch. Die Suppe war warmgestellt.
Wo er wohl herkam? Sie hatte ihn nie danach gefragt. Was er wohl trieb in den vielen Stunden des Tages und der Nacht? Denn Arbeit, Arbeit kannte er schon lange nicht mehr. Oft hatte er getrunken, wenn er etwas Geld in die Finger bekam, meist aber — sie dachte es sich so — strich er einsam und verbissen durch die Straßen der großen Stadt mit gesenktem Kopf, die Schultern vorgestemmt, die Fäuste geballt in den Taschen. Woher die Wandlung kam, die aus dem arbeitsamen braven Mann dies Bild verbissener Arbeitsscheu gemacht hat, wer konnte es ermessen? Marthe glaubte an ihn — noch immer. Schwer war es, an ihn zu glauben! Niemand hielt mehr etwas von dem Mann, die Nachbarn zuckten die Achseln über ihn und bedauerten Marthe.
Marthe aber konnte ihn nicht anders sehen, als so, wie sein Bild früher in ihrem Herzen war: hell und gut. Jeden Tag ersann sie von neuem etwas, ihn wiederzuerkennen. In ihrer bitteren Armut, denn er brachte fast kein Geld heim, verschaffe sie sich eine Stelle als Aufwärterin für mehrere Stunden am Tag und hielt davon mühevoll genug den kleinen Haushalt aufrecht. Einmal überraschte sie ihn mit frischem Kaffee, den er so liebte. Dann wieder standen Blumen auf dem Tisch. Oder ein gutes Buch lag da, bereit, daß er es lese.
Ost kam er unerwartet mitten am Tage heim und setzte sich vor das Haus in die Sonne, vor sich hinbrütend und Zigaretten rauchend. Niemand von den Nachbarn wagte ein Wort mit ihm zu sprechen. Er war als jähzornig und gewalttätig bekannt. Sie sah es so: Irgendwie war er vom Weg abgekommen, hatte sich tiefer und tiefer in die Wildnis menschlicher Niederungen verlaufen und fand jetzt den Pfad nicht zu sich selbst zurück. Freilich bangte sie um ihn, Tag und
Nacht, und dieses Leben, dunkler Ahnungen und Schrecken voll, zehrte sie auf. Ihre Wangen wurden bleich und ihre Hände durchsichtig. Die Arbeit begann ihr Mühe zu bereiten. Manchmal empfand sie Stiche in der linken Brustseite. Doch sie war Marthe — eine Frau. Und sie klagte nicht.
Sie saß noch eine Weile wach, die bleiche Stirn in die Hände gestützt. Von oben drang kein Laut herab. Dann ging auch sie zu Bett: ihr Lager hatte sie schon lange in der Wohnküche aufgeschlagen.
Am nächsten Tag geschah etwas. Während der Arbeit bei den Leuten, denen sie als Aufwärterin diente, überfiel sie jäh ein Schwindelanfall. Sie wurde ohnmächtig. Die Leute hatten sie gern und bemühten sich sehr um sie. Sie sollte heimgehen an diesem Tag und ausspannen. Sie ließ sich schwer genug dazu überreden. Sie ging heim und grübelte eifrig darüber nach, was nun kommen würde. Ihre Kraft reichte wohl nicht zu diesem Leben aus. Vielleicht nährte sie sich auch zu schlecht? Denn das wenige Geld verwandte sie fast ausschließlich für ihn. Doch dieser Gedanke streifte sie nur flüchtig. Ein Arzt? Sie konnte sich nicht dazu entschließen. Irgendeine merkwürdige Hoffnung, er würde daheim sein und sie erwarten, war den ganzen Weg über ihre Begleiterin. Ihre Hand zitterte und sie brachte es kaum fertig, den Schlüssel umzudrehen. Die Küche war leer. Mühsam schleppte sie sich die knarrende Treppe hinauf, horchte schwer atmend ein paar Augenblicke lang vor der Stuben- tür, ehe sie eintrat. Nichts. Niemand war da. Sie setzte sich oben auf die Treppe nieder. Große Müdigkeit überkam sie. Merkwürdig genug, aber sie dachte in diesem Moment, während ihr Geist nur verschwommen und schwach arbeitete, an ihre Mutter. Irgend jemand müßte sie jetzt nehmen und ins Bett packen, vielleicht wäre ein Tee gut, dann schlafen, schlafen. Irgendein Wort arbeitete sich in ihrem Bewußtsein ans Licht, kam näher, näher, ein oft gehörtes und gelesenes Wort. nahm Gestalt an, war plötzlich da: Einsamkeit. Sie saß lange auf der Treppe. Die Scheiben wurden blau, die Dämmerung kam wohl. Später schleppte sie sich in die Küche hinunter und öffnete die Tür. Luft, frische Luft wollte sie atmen. Dann kam wieder das schreckliche Wort in ihr Bewußtsein, setzte sich dort fest, ließ sich nicht verdrängen. Die Eärtchen waren bereits in Dämmerung gehüllt und gleichzeitig empfand sie, daß es vor ihren Augen leicht zu flimmern begann. Vielleicht hatte sie Fieber.
„Ich muß ihn finden!" — daran klammerte sie sich wie eine Ertrinkende.
Und mit kleinen, unsicheren Schritten ging sie los, um in der großen Stadt nach ihm zu suchen. Aber sie kam nicht weit. Nahe der kleinen Gartenpforte taumelte sie und sank zu Boden. Dort blieb sie liegen.
Irgendein Stern führte ihn früher heim an diesem Tag. Als er die Gartenpforte hinter sich zustieß, wäre er fast hingefallen, weil sein Fuß sich in ihren Röcken verfing. Er tastete im Dunkeln nach ihr, dann hob er sie auf und trug sie mit schnellen Schritten ins Haus. Er legte sie nieder und zog ihr die Schuhe aus. Dann holte er seine Decke von oben, die wärmer war, und deckte sie damit zu. Ihre Stirn brannte, die Au-
Kriegsfreiwilliger Hülsebusch
Don T. Harrff Hallernann
Warme Sommerluft lag über der Stadt. Dichte Wolken verhängten den Himmel. Sie machten die frühe Abendstunde zur Nacht. Eine frühe und tiefe Stille hatte allen Lärm aufgenommen. Sie dehnte sich mehr und mehr. Es war, als habe die Stadt eine stille Feier.
Neben dem Fluß, der in dunkler Schwere seinen Weg dahinzog, lag die Promenadenstraße. Sie war nur selten von jemandem begangen. 2n den abzweigenden Straßen war noch weniger Leben.
Jemand kam langsamen Schrittes zur Promenade herauf. Es war ein Jüngling. Gang und Haltung aber paßten durchaus nicht zu seiner Gestalt. Er ging wie ein alter Mann; schweren Schrittes und gesenkten Hauptes, gleich, als trüge er eine Last mit sich.
Sein Antlitz war bleich und ernst. Die volle Hingabe an sein Erleben spiegelte sich unverhüllt auf dem offenen jungen Gesicht.
Das war am 2. August 1914.
Das Hallen der Hörner und Trommeln war verklungen. In AHirde hatte Deutschland sein Geschick zu tragen begonnen. In wenigen Stunden war das Volk eisenhart geworden, gewappnet zur Erfüllung harter aber notwendiger Pflicht.
Volk in Not und Volk in Treue! —
Klaus Hülsebusch stand auf der Promenade. Seins jungen Glieder reckten sich in die Nacht. Die Brust wölbte sich und seinen Kopf trug er halb in den Nacken gelegt. Tief sog er den Atem ein. Lange stand er so, hingegeben an das erlebte Ereignis, fühlend sein Geschick und das seines Volkes, sich selbst hinschenkend in diesem Augenblick an sein Volk, an sein Vaterland.
In heiligen Flammen lohte dies wortlose Gelübde zum Himmel. Es war in brennender Seele empfunden und in einsamer Stille erlebt. Es war
frei gegeben aus begeistertem freien Herzen eines Jünglings. Und gleichsam als wäre diese Hingabe eine kündenswerte Tat, kam ein Sturmwind daher und trug brausend durch alle Lande den herrlichen Geist, aus dem diese Tat geboren.
Millionenmal flammte das gleiche Erlebnis. —
Klaus Hülsebusch war zurückgegangen in die Nebenstraße, aus der er gekommen. An ein Fenster, hinter dem Lichtschein war, pochte er dreimal. Wie ein Schattenbild stand er davor.
Klaus war hochgewachsen. Sein schmaler Kopf mit hoher Stirn und feinem Blondhaar kennzeichnete ihn als Norddeutschen. Spärlicher Lichtschein lag auf seinem Gesicht. Das helle klare Auge sah etwas dunkler aus als sonst.
Klaus wartete geduldig und fast unbeweglich. Diese norddeutschen Menschen haben ein ungeheures Beharrungsvermögen. Wenn sie an dem Gelingen einer Sache getan haben, was sie zu tun vermochten, können sie oft und oft ihren Anteil wiederholen. Sie wenden diese Eigenart auch in den kleinsten Dingen ihres Lebens an. Wohl ist das für andere schwer verständlich, aber sie müssen so sein. Es ist der llrzug ihrer niederdeutschen Wesensart und hat seinen Ursprung in lauterem Charakter. Einem Charakter, der stet und offen ist, dessen Wege zum Ziele niemals krumm sind. Lieber mag der Weg einmal vor dem Ziele enden, wenn ein Hindernis — notfalls auch mit harter Hand oder gewaltsam — nicht genommen werden kann, als daß er gewunden sei. Manche nennen solche Menschen „niedersächsische Dickschädel". Sie vergessen, daß solche Charaktere immer tapfer in jedem Sturme gestanden haben und ihrem Volke restlos dienten.
Noch einmal hatte Klaus an die Scheibe gepocht.
Aus der sich leise öffnenden Tür kam ein Mädchen. Das einfache Hausmädchenkleid vermochte von der stolzen Erscheinung nichts zu nehmen. 2m Gegenteil. Die Schlichtheit seiner Kleidung unterstrich noch den stolzen hohen Wuchs der Friestn. Stolz und frei waren die Bewegungen des Mädchens und die Art, in der es seinen Kopf hielt; schön und einfach.
In solcher Haltung mögen die Töchter der alten Germanen den Jungmannen die Geräte zu Jagd und Kampf dargereicht haben.
Die beiden jungen Menschen begrüßten sich mit einem Händedruck. Auf dem Antlitz des jungen Mädchens prägte sich die Frage, ,was ist geschehen'?
Scheinbar unbekümmert aber sprach es: „Nun, Klaus"? —
Zögernd kam die Antwort von Klaus' Lippen. Von fern her klang ein altes Soldatenlied: Die Reise nach Jütland.
„Hörst du das Lied, Erna? — Morgen muß auch ich reisen."
Klaus sprach nicht weiter vom Abschied. Er gedachte ihrer Gespräche von alten Zeiten; der Erzählungen von Armin dem Cherusker, von den Wikingern und Friesen, von der Franzosenzeit, von Scharnhorst und all den anderen von 1813. „Die Franzosenzeit damals war furchtbar für unser Volk. Und dennoch hat sie große Männer hervorgebracht, die uns 1813 gaben. Und tapfere Mädchen, die zu ihnen standen.
Gestern und heute habe ich viel erlebt. Erzählungen und Bilder aus alten Büchern find mir ins Gedächtnis gekommen. Ich verstand alles anders als vorher. Und ich weiß jetzt, daß ich eine Aufgabe zu erfüllen habe.
Ich weiß, daß ich dich liebe. So wie ich meine Mutter liebe, so groß und doch ganz anders. Und darum habe ich mich freiwillig gemeldet; weil ich dich liebe und dich schützen will und in dir mein Volk." —
Tief bewegt hielten sich beide an den Händen.
Ein ganzes Volk hielt sich umfaßt in diesen beiden.
„Gehe hin, Klaus, ich bin immer bei dir."
»
Der Kriegsfreiwillige Klaus Hülsebusch lag mit schwerer Verwundung auf llberschneitem Schlachtfelde. Hin und her ging das Gewoge. Die Maschinengewehre hämmerten und die Geschütze brüllten. Darüber stand die Wintersonne und spendete versöhnenden Glanz.
»
1916 hatte Klaus seinen ersten Heimaturlaub. Es gab ein freudiges Wiedersehen. Und doch war manches anders und fremd. Und, als er wieder draußen war, fühlte er, es war etwas zwischen der Welt und ihm, zwischen Erna und ihm. Er wußte nicht, was es war, nur empfand er: die Kameraden, die waren sein Volk, zu denen gehörte er. Gewiß, auch die daheim waren seines Blutes, aber wo war das Verstehen von früher?
Nach dem Urlaub im Jahre darauf hatte sich dies unbestimmte Gefühl noch verstärkt. Seine tiefere Ursache aber blieb Klaus verborgen.
Im Frühjahr 1919, als die Freikorps den rotesten Mob der Drückeberger und Kriegsgewinnler schon Hinweggeblasen hatten, kam Klaus heim. Wie war alles anders geworden in der Heimat. Klaus fand sich nicht mehr zurecht. Auch der Empfang bei Erna war fremd gewesen.
Nach einigen Tagen brach eine furchtbare Ueberraschung über Klaus herein. Erna wollte das Versprechen lösen, während Klaus den ganzen Krieg hindurch im Gedenken an die Heimat nichts anderes gedacht hatte als: wenn er heimkäme würde Erna seine Frau werden.
Alles Fordern und Fragen blieb ohne Erfolg. Erna hatte wie selbstvergessen nur einmal gesagt: „Nein, du irrst dich, du liebst nicht mich, — du liebst dein Volk."
„Ja, aber in dir! In dir liebe ich mein Volk, für dich habe ich gekämpft und geblutet, für unsere Kinder, die du uns schenken solltest!"
So hatte Klaus in hoher Erregung gerufen und war dann gegangen.
Die Trennung war gekommen. Klaus trug sie schwer, aber Trotz und Stolz machten es ihm nach und nach leichter.
Das war es auch nicht, was ihn wurzellos machte. Wenigstens nicht das allein. Er konnte sich in die Zeit nicht hineinfinden. Er kannte sich und die Welt nicht; so sehr hatte sie sich verändert. Er fand keine Verbindung und Beziehung zu den Menschen. Nicht zu seinem Volke, nicht zu den neuen Machthabern. Selbst Mutter und Geschwister waren ihm fremd geworden. Er verstand die Menschen nicht und ihr Tun. Wußte nicht, warum sie fröhlich waren, warum sie tanzten, warum sie Feste feierten. Es war die Zeit, in der ein Kriegsfreiwilliger als Kriegsverbrecher und Kriegsstifter gestempelt wurde. Und das von denen, die aus dem Blute des Krieges Gold ge- . macht hatten. Es war die Zeit, in der die Verwundeten und Hinterbliebenen Hohn und Spott erdulden mußten.
In Klaus Hlllsebusch brannte die Empörung, nachdem er durch eine Zeit der Verzweiflung sich hindurchgerungen hatte.
Und wieder stand er im Kampf für sein Volk, im Kampf für das Dritte Reich. Stiller diesmal, aber zäh wie immer. Geist und Verbissenheit waren seine Waffen, während die braunen Kameraden marschierten. —
Einmal stand plötzlich Erna vor ihm.
Eine weiße Rose hatte sie ihm in die Bluse geschoben und war wieder gegangen.
Klaus war es wie eine Vision gewesen.
Und nach dem großen Siege steht Klaus Hülsebusch immer wieder im Kampf, im Kampf für Deutschland, für Adolf Hitler, für die Festigung seiner Tat und seines Willens.
Einmal wird die Friestn kommen: „Dein Volk bin ich."-