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Politische Briefe : 1. Aussichten deutscher Parteientwicklung.
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Politische Briefe.

beschaffen fein mag, für die Gestaltung der Partei einflußreicher als das ent­sprechende Classenbedürfniß, über welches das Theorem vielfach hinausgeht. Ganz unstreitig ist es, daß im deutschen Parteileben die Theoreme das einfluß­reichere Bildungsmoment darstellen. Es ist sehr thöricht, wenn wir Deutschen uns so oft an unserm Instinkt irremachen lassen und namentlich auch in dem hier besprochenen Falle. Die Theoreme sind vortreffliche Parteimotive und als solche ein Zeugniß überlegener Geistesbildung, vorausgesetzt, daß sie gut sind.

Es ist nun ein kindlicher Mangel an Wahrnehmungsvermögen, der aber auf die Keime unserer politischen Bildung immer noch wie ein Raupenfraß wirkt, wenn wir die englischen sogenannten Parteien für etwas den kontinentalen Ver­wandtes halten. Die Verwandtschaft ist nicht größer als zwischen dem Hörne des Mondes und dem Hörne des Rindes. Whigs nnd Tories sind die beiden Firmen, unter welchen die englische Oligarchie das Geschäft der Ausbeutung des Staates betreibt. Man merke wohl: die englischen Parteien repräsentiren, die eine so wenig wie die andere, ein Classenbedürfniß, das sich erst durchsetzen will. Sie repräsentiren beide den längst gesicherten Herrschaftsstand einer ein­zigen Classe. Ferner: Die Mitglieder dieser Parteien haben und kennen kein Theorem, als daß die bestehende Staatsordnung die absolut vollkommene ist. Was die Parteimitglieder wollen, ist einzig und allein, daß ihre Söhne, Vettern, Brüder, Schwäger u. s. w. bald in Indien, bald in Australien, bald hier in einem Mos, bald dort in einer Gesandtschaft, bald hier in einem doarä, bald dort in einem Consulat einträgliche Stellen erhalten. Für ihre eignen Personen begehren die Parteimitglieder in der Regel dergleichen nicht, da es Sitte und theilweise Nothwendigkeit ist, sein Glück gemacht zu haben, ehe man ins Par­lament gewählt werden kann. Eine solche Partei folgt dem gewühlten Führer wie eine Schaar Soldaten dem Conquistador. Der Hauptmann muß für Sieg und Beute forgen, aber man redet ihm nicht in die Operationen. Es ist ganz undenkbar, daß englische Parteimitglieder den Führer controliren, ob er correct nach den Theoremen wandelt. Man ist bereit, alle Theoreme der Welt neun­undneunzig Mal in jeder Minute mit Füßen zu treten, wenn das Parteige- schüft seinen soliden und guten Gang geht. Daher der gute Rath, den vor Zeiten englische Parlamentarier an deutsche Collegen gelangen ließen, doch die überflüssigen Fractionsberathungen einzustellen. Das kam den deutschen Poli­tikern vor wie der Rath, sich das Essen abzugewöhnen. Aber anstatt dem Räthsel nachzusinnen, dachten unsere Landsleute mit gewohnter Bewunderung vor England, die Engländer müßten wohl einen Magen haben, der ohne Speisen auskomme, also auch Fractionen, wo der Fractionswille sich bildet ohne Zu­sammenkünfte und Berathschlagung. Niemand wagte zu ahnen, daß es dort keinen Fractionswillen giebt, so lange der Führer Erfolg hat, den man im Stiche